„Die EU in ihrer jetzigen Form…“

Das Europa der Misere ist die Voraussetzung für den ökonomischen Erfolg deutscher Konzerne und Banken
Winfried Wolf. Lunapark21 – Heft 29

Die Heftigkeit, mit der insbesondere die deutschen Medien auf den Wahlerfolg von Syriza und auf die politische Offensive der neuen griechischen Regierung reagieren, ist ebenso einmalig wie logisch. Einmalig ist die offene Missachtung einer demokratischen Wahl in einem nicht ganz so kleinen europäischen Land. Indem Tsipras, Varoufakis & Co. als „Anfänger“, „Halbstarke“ und „gierige Griechen“ dargestellt werden, wird schlicht negiert, dass die neue Regierung in Athen eine klare Mehrheit im Parlament und eine Mehrheit der griechischen Bevölkerung hinter sich hat, die seit der Wahl weiter wuchs. Logisch ist diese Aggressivität aus zwei Gründen: Erstens, weil der relative Erfolg, den die deutschen Unternehmen und Banken seit rund zwei Jahrzehnten erleben, in erheblichem Maß auf der ökonomischen Misere in einem großen Teil Europas basiert. Zweitens weil aus deutscher Sicht der Erfolg von Syriza im Europa der Misere nicht Schule machen darf, anderenfalls würde dieser Ökonomie des Erfolgs der deutschen Wirtschaft schlicht der Boden entzogen. So war dies auch kaum verhüllt in der Süddeutschen Zeitung nach dem Syriza-Wahlsieg zu lesen: „Die gemäßigten Parteien können den seit 2011 immer mehr Zuspruch erfahrenden radikalen Parteien keine Zugeständnisse machen, ohne die EU in ihrer jetzigen Form zu riskieren.“ Im gleichen Artikel wird Schäuble mit den Worten zitiert: „Es geht nicht mehr um einzelne Länder. Es geht um Europa.“[1]

„Die EU in ihrer jetzigen Form …“: Das ist eine EU, in der die deutschen Konzerne und Banken Jahr um Jahr ihre führende Position zu einer absolut hegemonialen ausbauen konnten. Als ein Hebel in dieser Hinsicht wirkt die Einheitswährung Euro, mit der es seit gut eineinhalb Jahrzehnten allen Ländern, die diese Währung einführten und die damit die eigene Währung aufgaben, nicht mehr möglich ist, sich durch regelmäßige Abwertungen vor der deutschen ökonomischen Walze teilweise wegzuducken.[2]

Von der relativen Hegemonie zur absoluten
Westdeutschland war seit den 1960er Jahren innerhalb Westeuropas immer die relativ stärkste Wirtschaftsmacht. Doch Länder wie Frankreich, Italien und Großbritannien spielten gewissermaßen in der gleichen Liga. Vom Zusammenbruch der Sowjetunion und der Warschauer-Pakt-Staaten profitierte dann die deutsche kapitalistische Ökonomie am meisten – und dies aus drei Gründen: Erstens wegen der geographischen Nähe. Zweitens aufgrund der guten Ausgangsposition, die sich in Folge der deutschen „Ostverträge“ aus den 1970er Jahren und dem damit zusammenhängenden intensiven Handel zwischen der BRD und Osteuropa ergeben hatte. Und drittens, weil die BRD sich die DDR einverleiben konnte, womit das deutsche kapitalistische Wirtschaftspotential in kurzer Zeit qualitativ vergrößert wurde (vor allem durch die größere Zahl ausbeutbarer Arbeitskräfte, durch die neue Ost-West-Konkurrenz mit der Folge des durch Hartz IV nochmals beschleunigten Lohndumpings und durch den deutlich vergrößerten inneren Markt). Das blieb zunächst im Zeitraum 1990 bis 1998 weitgehend verborgen; das deutsche Kapital hatte zunächst, salopp formuliert, Schluckbeschwerden: der Happen Ex-DDR war groß und musste verdaut werden. Doch spätestens mit der Jahrtausendwende und der Agenda 2010 begann sich die Wiedervereinigung auch bei den Exporten, beim Exportüberschuss und hinsichtlich der Weltmarktposition auszuzahlen. Wobei just in diesem Augenblick der Euro eingeführt wurde. Die Expansion der deutschen Exporte innerhalb Europas konnte ungebremst durchgeführt werden.

Spätestens seit der Krise 2007/2009 driften die Wachstumsraten in der EU deutlich auseinander. Die entscheidenden Konkurrenten Deutschlands im Euroraum, Frankreich und Italien, befinden sich seit 2008 weitgehend in einer Stagnations- und Krisenperiode. Parallel entwickelte sich eine Peripherie-Region mit Spanien, Portugal, Irland, Griechenland und Zypern, die sich seit 2009 im vollausgebildeten Krisenmodus befindet. Dabei hat sich die Krise in der Peripherie-Region seit 2010/2011 verschärft – just zu dem Zeitpunkt, zu dem die EU respektive die Troika diesen Ländern Kredite und eine Austeritätspolitik aufzwang.

Naturgemäß starren derzeit alle auf Griechenland. Das griechische Bruttoinlandsprodukt brach seit 2008 um fast 30 Prozent ein (siehe Tabelle 1). Doch die anderen Peripherie-Länder erlebten ebenfalls einen deutlichen Einbruch ihrer Wirtschaftsleistung. Das BIP in diesen Ländern lag auch 2014 deutlich unter dem Niveau, das vor der Krise erreicht war. Für diese Staatengruppe gibt es nunmehr ein „verlorenes Jahrzehnt“.

Italiens und Frankreichs Kurs in Richtung Krisenstrudel
Italien zählt offiziell nicht – oder noch nicht – zu den Ländern der Krisen-Peripherie. Das könnte auch der Milde geschuldet sein, mit der die EU-Institutionen Rom bislang behandelten. Was auch damit zusammenhängt, dass dort bis 2013 und mehr als ein Jahrzehnt lang mit Berlusconi ein Medien-Mogul und Milliardär an der Spitze der Regierung stand, dessen Partei als Teil der Europäischen Volkspartei eng mit der CDU/CSU verbunden ist. Faktisch muss Italien längst zur Krisen-Peripherie der EU gerechnet werden; das italienische BIP liegt Ende 2014 um gut 10 Prozent unter dem Vorkrisenniveau.

Frankreich steht ein bisschen besser da. Hier gab es seit 2010 in der Gesamtbilanz immerhin ein bescheidenes BIP-Wachstum. Doch auch hier konnte die Delle, die die Krisenjahre 2008 und 2009 verursachten, noch nicht wieder ausgeglichen werden.

Weit davon geeilt ist allerdings Deutschland – weitgehend begleitet von Österreich, das inzwischen eng mit der deutschen Wirtschaft verflochten ist. In beiden Ländern lag das Bruttoinlandsprodukt Ende 2014 deutlich über dem Niveau, das vor der Krise erreicht worden war. Das mag als nicht viel erscheinen. Doch gemessen an den geschilderten Einbrüchen in den Peripherie-Staaten und auch gemessen an dem italienischen und französischen BIP ist das beträchtlich: hier gibt es eine scherenartige Auseinanderentwicklung, wie dies in der Grafik deutlich wird.

Noch anschaulicher wird das Auseinanderfallen der Eurozonen-Staaten bei einer Betrachtung der Zahlungsbilanzen (siehe Tabelle 2). Die Peripheriestaaten und die zwei Schwergewichte Frankreich und Italien wiesen kontinuierliche Zahlungsbilanzdefizite auf. Diese summieren sich für den Zeitraum 2006 bis 2014 auf mehr als eine Billion Euro. Demgegenüber konnten der „Zentrumsblock“ Deutschland, Österreich und die Niederlande gewaltige Zahlungsbilanzüberschüsse erzielen. Auch wenn rein rechnerisch eine direkte Gegenüberstellung der Defizite in der erstgenannten Gruppe mit den Überschüssen im „Zentrumsblock“ nicht gestattet ist, so ist doch zweierlei klar: Überschüssen in einer Zahlungsbilanz des einen Landes haben immer ihr logisches Gegenstück in entsprechenden Defiziten anderer Länder. Und alle aufgeführten Peripheriestaaten und Frankreich und Italien haben beim Austausch von Gütern und Dienstleistungen zumindest mit Deutschland deutliche Defizite. Irland ist im übrigen insofern ein Sonderfall, als dieses Mitglied der Eurozone seine wichtigsten Handelspartner in den USA und in Großbritannien hat, also in Ländern, die nicht zur Eurozone zählen. Das trug wesentlich dazu bei, dass sich dieses Land nach der Finanzkrise leicht erholen und eine positive Zahlungsbilanz erreichen konnte.

In diesem LP21-Heft wurde bereits mit der QaLü auf den Seiten 4/5 dokumentiert, wie die Peripherieländer mit Beginn der Austeritätspolitik noch stärker in die Krise getrieben wurden und wie in diesem Zusammenhang insbesondere die Schuldenquote weiter ansteigt. Griechenland, so unsere zentrale Aussage dort, ist eben kein Sonderfall, sondern die Normalität in dieser TBZ, der von der Troika Beherrschten Zone.

Die „EU in ihrer jetzigen Form“ konnte sich bislang dieses Auseinanderfallen leisten, weil auch das addierte BIP aller fünf Peripherieländer (Spanien, Portugal, Irland, Griechenland und Zypern) nur einen Anteil am Eurozonen-BIP von rund 16 Prozent ausmacht. Gemessen am gesamten EU-BIP sind es nur 11 Prozent. Sobald aber eines der Schwergewichte Italien und Frankreich in den Kreis der „Peripherie“ (die spätestens dann neu zu benennen ist) gestoßen wird – oder in denselben Kreis durch die längst in Gang gesetzte Eigendynamik gerät – verändert sich die Situation in der EU qualitativ. Allein Italien bringt so viel auf die Waage wie die fünf aktuellen Krisen-Peripherie-Länder zusammen. Frankreich und Italien zusammen kommen auf rund 37,6 Prozent Anteil am Eurozonen-BIP – fast zehn Prozentpunkte mehr als das Gewicht, das hier die deutsche Ökonomie einnimmt (28,3%).

Die neue, entscheidende Phase in der EU
Genau in dieser Phase befindet sich die EU. Frankreich und Italien treten in den Kreis derjenigen ein, die bislang als „Peripherie“ bezeichnet wurden. Und es ist im wesentlichen die gleiche Dynamik, die in diesen großen Euroländern die Krise hervorruft, die zuvor die sogenannten Peripherie-Länder in die Krise riss: Das spezifische Gewicht der deutschen Ökonomie ist allzu übermächtig geworden, den ökonomischen Abwehrmechanismus „Abwertung der eigenen Währung“ gibt es nicht mehr. Die politischen Abwehrmechanismen sind deutlich geschwächt: Die französische politische Klasse ist servil mit der deutschen Regierung verbunden. Die italienische Bourgeoisie befindet sich in einem Zustand latenter Zersetzung, wie das Beispiel Fiat zeigt.[3]

In Italien und in Frankreich gibt es inzwischen eine Mischung aus drei sozialen und ökonomischen Faktoren, die sich zu einem gefährlichen Krisencocktail verrühren: hohe und wachsende Arbeitslosenquoten, hohe Leistungsbilanzdefizite und eine hohe und steigende Staatsschuldenquote. Die Arbeitslosenquote Frankreichs liegt bei über 10 Prozent (siehe Artikel S. 19 und Kasten Seite 20); diejenige Italiens ist auf über 12 Prozent geklettert. In Italien liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei erschütternden 43 Prozent. Die Leistungsbilanzdefizite beider Länder machten bereits 2013 mehr als 400 Milliarden Euro aus (siehe Tabelle 2). Die Staatsschuldenquote Frankreichs erreicht 2015 die 100-Prozent-Marke. Diejenige Italiens ist bereits 2014 auf 130 Prozent geklettert. Sie liegt damit heute bereits höher als die Staatschuldenquote zu Beginn der griechischen Krise. Vor allem herrscht eine unzweideutige Dynamik: In Italien beispielsweise stieg die offizielle Arbeitslosenquote von 8,4 Prozent im Jahr 2010 auf nunmehr 13 Prozent 2015. Die Staatsschuldenquote lag 2010 „erst“ bei 115 Prozent – und wird 2015 auf 135, wenn nicht 140 Prozent klettern. Auch hier hat, wie ihn Werner Rügemer bezeichnet, der „gnadenlose Opportunist“ Jean-Claude Juncker vor wenigen Wochen Gnade walten und mitteilen lassen, Italien bekomme, wie Frankreich „Zeit bis 2017“, um überzeugende Pläne zum Defizit- und Schuldenabbau vorzulegen. Ein Statement, das mit Blick auf Griechenland und hinsichtlich der Härte, mit der die EU gegen dieses kleine Land vorgeht, absurd und bizarr ist. Doch das ist eben auch ein rationales Statement, weil das spezifische Gewicht Italiens in der Eurozone eben sieben Mal größer als dasjenige Griechenlands ist.

Dieses „Statement der Milde“ ist nicht zuletzt deshalb „rational“, weil die Regierung von Matteo Renzi angepasst ist, weil sie im engen Verbund mit der korrupten Bande von Berlusconi das Land beherrscht. Und weil die Regierung in Rom eben nicht, wie Syriza in Athen, offen die Austeriätspolitik in Frage stellt – und damit nicht die „EU in ihrer jetzigen Form“ – also die Hegemonie der deutschen Konzerne und Banken in der EU – herausfordert.

Anmerkungen:

[1] Carstin Gammelin, „Europa gewinnt Zeit“, in: Süddeutsche Zeitung vom 21. Februar 2015.

[2] Zu Erinnerung: Allein im 14-Jahres-Zeitraum März 1979 bis August 1993 werteten die folgenden Währungen gegenüber der DM wie folgt ab: Drachme -86%; portugiesischer Escudo -75%; spanische Pesete: -54%, italienische Lira: -52%; irisches Pfund: -37%; französischer Franc:
-33%. Es gibt kein rationales Argument dafür, warum es heute nach 14 Jahren Euro nicht einen vergleichbaren „Abwertungsbedarf“ in diesen nunmehr zur Eurozone zählenden Ländern geben würde.

[3] Der Fiat-Konzern verlegte jüngst seine formelle Zentrale in die Niederlande. Die Lkw- und Bussparte wurde ausgegliedert (Iveco). Die Fiat-Pkw-Fertigung in Italien hat sich zwischen 1999 und 2013 von 1,7 Millionen auf 650000 auf fast ein Drittel reduziert. Fiat fertigt mit seiner Tochter Chrysler in den USA drei Mal mehr Pkw als in Italien gefertigt werden.

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