Außenpolitik als Naturwissenschaft auf dem Bierdeckel

Ein kritischer Blick auf den britischen Experten für foreign affairs Tim Marshall

Beginnen wir mit einem Zitat des Dichters Peter Hacks: „Die Außenpolitik ist an der Politik das Geistlose. Wenn die Innenpolitik die Durchsetzung von Gedanken zwar nicht zum Ziel hat, so arbeiten doch die Klassen, wenn sie ihre Machtkämpfe betreiben, unbewußt und nebenher an einem Gesamtgefüge, dem Staat. So ein Staat hat eine Grenze, die ist der Rand, bis zu dem man gehn kann, und der Rahmen, innerhalb dessen Fortschritte sich abstecken und messen lassen.

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Rede von Georg Fülberth am 15.7.23 in Stuttgart zur Erinnerung an Winfried Wolf

Liebe Anwesende,

jetzt, zum Schluss, bleibt vielleicht noch eine Frage:

Wie hat Winnie Wolf es geschafft, nach der Zerschlagung der Hoffnungen von 1968 und nach dem Ende des Staatssozialismus 1989/1991, zugleich ein radikaler Reformer zu werden und doch unverändert ein revolutionärer Sozialist zu bleiben?

Er gehörte zunächst zu den Achtundsechzigern. Das waren Menschen, die zwischen 1940 und 1950 geboren wurden und die 1968 zu dem Schluss kamen, jetzt sei alles möglich. In Vietnam verloren die USA gerade einen Krieg, in Mitteleuropa behauptete sich der Staatssozialismus gegen das Rollback, in Kuba gegen die USA, in Afrika siegten nationale Befreiungsbewegungen, in der Bundesrepublik wankten Hierarchien. Es gab weltweite Protestbewegungen.

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Sozialismus 3.0?

Zu Beiträgen von Michael Brie, Frank Deppe und Klaus Dörre

Seit einigen Jahren werden  Überlegungen zu einer etwaigen dritten Welle des Sozialismus angestellt.

2016 veröffentlichte Michael Brie einen knappen Text mit der Überschrift „Die dritte Welle des Sozialismus – eine Skizze“. Die erste datierte er zwischen 1789 und 1917: von der Französischen Revolution mit ihrem allgemeinen Freiheits- und Gleichheitsversprechen über die Konstituierung der Arbeiterbewegung bis zu deren Heranwachsen zu einem Machtfaktor noch in der Opposition. In der zweiten Phase ab 1917 errichteten die Kommunist:innen eine Herrschaftsform, die sie als Diktatur des Proletariats proklamierten, im kapitalistisch verbleibenden Teil der Welt traten Sozialdemokrat:innen in Regierungen ein und verfochten im politischen System die Interessen der Arbeiterklasse ebenso wie die Gewerkschaften in der Ökonomie mit zeitweise beträchtlichem Erfolg. Beide Modelle endeten: im Osten mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, im Westen durch den Sieg eines neuen Marktradikalismus („Neoliberalismus“).

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Kapitalismus mit Drehtüren

Branko Milanović sieht den Kapitalismus auf der Suche zu neuen Ufern

Der aktuelle Zusammenstoß zwischen kapitalistischen Großmächten wird immer wieder mit Begriffen des Kalten Kriegs beschrieben. Das Buch „Kapitalismus global. Über die Zukunft des Systems, das die Welt beherrscht“ des Ökonomen Branko Milanović gibt die Möglichkeit, auch solche Verwerfungen in eine Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung einzuordnen – und zwar so sehr, dass sie im Einzelnen gar nicht mehr erwähnt werden müssen.

Der Autor wurde 1953 in Belgrad geboren, studierte dort Ökonomie und promovierte 1987 über soziale Ungleichheit in Jugoslawien. Später war er leitender Ökonom in der Forschungsabteilung der Weltbank. Schwerpunkt seiner Untersuchungen blieb die Verteilungs-Ungleichheit.

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Ukrainekrieg und Geopolitik

Jeder russische Sieg ist zugleich eine schlimme Niederlage Russlands

These: Zweiter Imperialismus, die Kontinuität des Wettrüstens und die Perspektive, dass Russland zum failed state werden könnte: Dies sind die geopolitischen Koordinaten der Ukraine-Krise.

Zweiter Imperialismus

Eine erste Entwicklungslinie, die zur gegenwärtigen Situation führte, dürfte in der Kontinuität des Imperialismus bestehen. Sie durchlief mehrere Etappen.

Seit etwa 1870 hatten die hochindustrialisierten europäischen Großmächte neue Kolonien erobert und die ökonomische Durchdringung sowie Ausbeutung ihrer bisherigen intensiviert. Sie konkurrierten um Rohstoffquellen und um Absatzgebiete für Waren und für überakkumuliertes Kapital, das auf ihren Binnenmärkten nicht mehr investiert werden konnte. Um 1900 hatten die Vereinigten Staaten von Amerika im Süden ihrer eigenen Hemisphäre sich als dominante Macht etabliert. So waren sie ebenfalls längst eine imperialistische Macht geworden.

Nach einer Übergangsperiode 1941-1945, in der eine systemübergreifende Allianz gegen den deutschen Faschismus kämpfte und siegte, trat der Imperialismus in eine Latenzperiode ein. Die kapitalistischen Mächte beendeten ihre Konflikte gegeneinander und führten unter US-amerikanischer Führung den Kalten Krieg gegen den Sozialismus.

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Leistung, Kapital, Staat und Kommunalpolitik

Biontech basiert auf öffentlichen Geldern und bewirkt die Senkung von öffentlichen Einnahmen aus Kapitalerträgen

In der vorigen Lunapark21-Ausgabe besprach Jürgen Bönig das Sachbuch „Projekt Lightspeed“, das der Journalist Joe Miller zusammen mit Özlem Türeci und Ugur Sahin verfasst hat. Wer es liest, wird voller Bewunderung für die wissenschaftliche und unternehmerische Leistung eines Forscher-Ehepaars sein, das 2020 sehr schnell einen Impfstoff gegen das Covid-19-Virus entwickelt hat.

Der FDP-Bundestagsabgeordnete Johannes Vogel befindet, die Erfolgsgeschichte von Biontech „zeige auf, wie wir als Land sein könnten.“ Er folgt der liberalistischen Doktrin für die Lösung aller gesellschaftlichen Probleme: Hightech, forciert durch geniale große Einzelne und findige Ingenieure plus Marktwirtschaft. Diese Erzählung soll im Folgenden geprüft werden.

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Mit Lindner in die Verlängerung

Systemische Krisen und die Rolle der FDP

Die Bestimmung von Artikel 65 des Grundgesetzes, wonach der Bundeskanzler die Grundlinien der Politik bestimmt, dürfte für die Dauer der Ampel-Koalition außer Kraft gesetzt sein. Stattdessen stehe dies dem FDP-Vorsitzenden Christian Lindner zu. Er selbst sieht das zumindest so, und offenbar kann er es sich herausnehmen: als der Mann, der zusammen mit den Grünen darüber entscheidet, welche Regierung zustande kommt und welche nicht, und nun darüber wachen müsse, dass das Kapital dabei nicht zu Schaden kommt.

Das Erstaunen über den Wiederaufstieg der FDP ist gegenwärtig ähnlich groß wie 2013 die Schadenfreude über ihr Ausscheiden aus dem Bundestag. Beide Ereignisse stehen in einem gewissen Zusammenhang miteinander.

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Doppelte Agenda und halbe Lunge

Sahra Wagenknechts jüngstes Buch „Die Selbstgerechten“

Kultureller Snobismus gehörte Ende des 19. Jahrhunderts zum Habitus einiger Angehöriger der Oberklassen, die sich über deren platten Materialismus erhaben fühlten, sich allerlei Abweichungen von den offiziellen Normen leisteten und deshalb als freisinnig galten. Hierher gehörte die Figur des Dandy, zum Beispiel Oscar Wilde.

Sahra Wagenknecht hat nun beobachtet, dass solche Haltung sich heute nicht mehr nur bei den schwarzen Schafen der Plutokratie, sondern auch in der arrivierten akademischen Mittelschicht finde. Es gebe eine „Lifestyle-Linke“, die, materieller Sorgen ledig, ihre Privilegien als selbstverständlich voraussetze und den Menschen, die der unteren Mittelschicht oder der Arbeiterklasse angehören, vorschreiben wolle, wie sie zu leben und zu denken haben. Das seien „die Selbstgerechten“, deren Einstellung sogar von den prekären Teilen der akademischen Mittelschicht übernommen werde.

Thomas Piketty hatte bereits in seinem 2019 erschienenen Werk „Kapital und Ideologie“1 konstatiert, die linken Parteien hätten sich akademisiert und sich dabei von ihrer sozialen Basis, den arbeitenden Unterschichten, entfernt. Deshalb wählten diese mittlerweile in erheblichen Teilen rechts.

„Die Selbstgerechten“ erinnert an den Titel eines anderen Buches: „Die Abgehobenen“ von Michael Hartmann. Dieser meint die Wirtschafts- und Politik-Eliten, Wagenknecht hingegen eine in einem kleinen Segment der Mittelschicht anzutreffende Attitüde, und zwar in einigen wenig bedeutenden geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern der Universitäten und in den Feuilletons.

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Kritischer Proprietarismus?

Thomas Piketty „Kapital und Ideologie“ – Versuch, einen Misserfolg zu erklären

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In seinem 2013 auf Französisch, 2014 auf Deutsch erschienenen Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ beschrieb Thomas Piketty eine Art U-Kurve: Die Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen hatte im 19. Jahrhundert zugenommen und 1913 einen Höchststand erreicht, nahm seit dem Ersten Weltkrieg ab, wies zwischen 1950 und 1980 besonders niedrige Werte auf, stieg danach wieder an und kam 2013 fast wieder auf das gleiche Niveau wie hundert Jahre vorher. Armut der öffentlichen Haushalte verhindere aktuell eine nachhaltige Infrastruktur-, Sozial-, Umwelt und Bildungspolitik. Piketty plädierte deshalb für eine steuerpolitische Umverteilung. Sein Buch hatte große publizistische Resonanz und blieb praktisch wirkungslos. Letzteres veranlasste ihn dazu, nach den Ursachen seines – politischen – Misserfolges zu fragen. So entstand ein zweites Werk: „Kapital und Ideologie“. Hier werden die Gründe für die zähe Aufrechterhaltung von gesellschaftlicher Ungl eichheit untersucht. Sie seien ideologischer Art.

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Pelzhändler und Kosmographen

Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799), Physiker und Philosoph in Göttingen, notierte 1789 in einem seiner „Sudelbücher“ folgende Überlegung: „Die Kosmographen werden freilich keine nordwestliche Durchfahrt finden, aber die Pelzhändler, man würde selbst in philosophischen Dingen sehr viel weiter sein, wenn man die Untersuchungen so einrichten könnte, dass der Gewürz- oder Pelzhandel dadurch befördert würde.“*

Diese Zeilen können verschiedenartig interpretiert werden: 1. als Lobpreis der Marktwirtschaft, 2. als eine Vorwegnahme des Historischen Materialismus. Ad 1: Lichtenberg beobachtet, dass das Profitmotiv eher zu neuen Erkenntnissen führen kann als Grundlagenforschung oder dass Letztere durch Ersteres eher auf den Weg zu bringen ist als durch ausschließlich wissenschaftlichen Antrieb.

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