Alter und Ökonomie Viele alte Menschen suchen verzweifelt nach Arbeit

Immer mehr Menschen werden älter. Das sollte uns nicht beunruhigen; schließlich ist das auch dem medizinischen Fortschritt geschuldet. Nach einem Bericht der Arbeiterwohlfahrt ist in Deutschland jede 5. Person 65 Jahre und älter, und jede 12. Person ist 85 Jahre und älter.

Allerdings gibt es nicht DIE Alten. Geschlechts- und klassenspezifische Ungleichheiten und solche nach ethnischer Herkunft, Beeinträchtigungen, Religion machen auch vor dem Alter nicht Halt. Wer in früher Kindheit bessere Chancen hatte, hat sie meist auch später. Die sozialen und geschlechterspezifischen Unterschiede verstärken sich sogar durch die neu hinzukommende Altersdiskriminierung, durch aktuelle Entwicklungen im Rentenrecht, durch fortschreitende Präkarisierung am Arbeitsmarkt. Früher wurde Alter meist mit Zurückhaltung, Ruhestand und Gebrechlichkeit verbunden, heute ist die politische Programmformel des »active aging« längst auch zu einem Teil der Fremd- und Selbstbeschreibung älterer Menschen geworden. In Politik und Wirtschaft setzt sich ein Menschenbild durch, das von jedem Einzelnen erwartet, sich flexibel und vorsorgend, selbsttätig und eigenverantwortlich zu verhalten. Diese neue politische Ökonomie der Aktivgesellschaft greift auch auf bislang verschonte Lebenssphären und -phasen über. Dazu gehört das Alter.

Ältere Menschen werden zukünftig unsere Gesellschaft mehr und mehr prägen. Diese Entwicklung wird von ver­schiedenen Faktoren bestimmt: Die geburtenstarken Jahrgänge der „Baby-Boomer“ der 1960er Jahre erreichen bald das Rentenalter. Hinzu kommt, dass sich die Lebenserwartung seit dem 19. Jahrhundert fast verdoppelt hat; sie liegt für die heute geborenen Jungen im Durchschnitt bei 78 Jahren, für die Mädchen bei 83 Jahren. Abhängig davon, wie sich die Lebenserwartung, das Wanderungsverhalten in der Bevölkerung sowie die Geburtenrate entwickeln, werden im Jahr 2050 nach dem Altenbericht der Bundesregierung von 2016 zwischen 33 und 40,1 Prozent der Bevölkerung 60 Jahre oder älter sein.

Unsere Gesellschaft hat das Glück, die am besten ausgebildete Altengeneration zu beherbergen. Manche ältere Menschen sind – oft gegen ihren Willen – durch Frühverrentung oder durch Erwerbslosigkeit aus dem Erwerbsleben herauskatapultiert worden. Viele gehören zu den fitten Alten, von denen die Altersforscherin und frühere Ministerin Ursula Lehr einmal sagte: “Wenn der Ruhestand da ist, merkt man schnell, dass Ausschlafen, Reisen und Hobbys nicht ausfüllen. Viele Pensionäre suchen verzweifelt nach Arbeit.” Viele ältere Menschen brauchen gar nicht zu suchen, denn sie sind für die Betreuung der Enkel zuständig, arbeiten ehrenamtlich für das Gemeinwesen oder verdienen selbst noch Geld, weil sie das wollen oder müssen. Oft sind das prekäre Arbeitsverhältnisse, die sie früher auch schon hatten, deshalb sind sie im Alter arm.

Armut im Alter

Armut im Alter stellt für Betroffene eine besondere Notlage dar, die sie meist nicht selbst verschuldet haben.

„Ob jemand im Alter finanziell hilfebedürftig ist, hängt von einer Vielzahl oftmals sehr individueller Einflüsse ab“, so steht es in der Stellungnahme der Bundesregierung zum 7. Altenbericht. Dort wird aufgezeigt, dass die finanzielle Hilfsbedürftigkeit sehr wohl strukturelle Ursachen hat, denn: „eigenständige Alterssicherung oberhalb des Niveaus der Armutsgrenze oder der Grundsicherung ist auf Grundlage von Niedriglohnarbeitsverhältnissen und Minijobs kaum möglich.“ Das betrifft vor allem Frauen, aber auch immer mehr Männer. Das Problem wird sich in der Zukunft noch verschärfen, weil die prekären Arbeiten zunehmen. Schon heute sind fast 6 Millionen ältere Menschen in der BRD von Armut bedroht. Die Frauen sind in der Überzahl, ihre Armutsgefährdungsquote liegt im Schnitt um ein Drittel über der der Männer.

Viele alte Menschen haben eine so kleine Rente, dass sie zusätzlich Grundsicherung beantragen müssen. Nach dem Altenbericht bestreiten neun von zehn SeniorInnen ihren Lebensunterhalt überwiegend durch eine Rente oder Pension. „Dabei zeigen sich zwischen Frauen und Männern deutliche Unterschiede: Bei verheirateten Paaren liegt das Durchschnittseinkommen bei 2.543 Euro, Alleinstehende Männer kommen auf durchschnittlich 1614 € und Frauen auf 1.420 €. Aufgrund der früheren geschlechtsspezifischen Rollenverteilung der Generation 65plus leben allerdings 25 Prozent der Ehefrauen überwiegend von den Einkünften der Angehörigen (meist ist das der Ehemann); entsprechendes gilt nur für ein Prozent der Männer. Grundsicherung bekamen 2012 3,4 % der westdeutschen Frauen ab 65 und 2,5 % der Männer, bei den ostdeutschen Frauen waren es 2,1% und 1,8 % Männer. Jede/r 40. dieser RentnerInnen ist ein Sozialfall, in Berlin sogar jede/r zwanzigste. 409 Euro Grundsicherung  im Monat stehen ihm/ihr zu. Ihre Zahl steigt ständig. Von vielen wird das Geld nicht in Anspruch genommen, weil sie Angst vor der Procedur des Beantragens mit den vielen Formularen haben und vor der erniedrigenden Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung. Viele RentnerInnen wissen gar nicht, dass es so etwas gibt.

Die Zahl der erwerbstätigen RentnerInnen steigt ständig an

Immer mehr Rentner müssen einer Erwerbsarbeit nachgehen, weil ihre Rente nicht reicht. In der Generation 65 plus steigt die Zahl der Erwerbstätigen stark an. Waren es 1995 noch 4,4 % der RentnerInnen, die dazu verdienen wollten/mussten, so waren es 2015 14,5 %. Mehr Männer als Frauen sind im Rentenalter erwerbstätig. Viele tun das nicht freiwillig. Morgens um 4.30 Uhr Zeitungen austragen oder Brötchen verkaufen, ist bestimmt kein Zuckerschlecken. Oft sind die Übergänge zwischen „ehrenamtlicher“ Arbeit, geringfügiger Beschäftigung und Erwerbsarbeit fließend, besonders durch neu geschaffene Niedriglohnarbeit wie den Bundesfreiwilligendienst.

Auch wenn mehr Männer erwerbstätig sind, werden es in der Zukunft vor allem Frauen sein, deren Rente nicht ausreicht. Und unter den Frauen sind die alleinlebenden und alleinerziehenden auch im Alter am Ärmsten dran. Das ist eindeutig das Ergebnis der familistischen Politik der Bundesrepublik.

Man hat die Rentnerinnen offenbar gerne. Sie nehmen prekäre Arbeitsverhältnisse an, sie engagieren sich, denken mit, gehen sparsam mit Ressourcen um, begegnen den Kunden mit Respekt und sind morgens ausgeschlafen, weil sie abends nicht in die Disco gehen. Viele von ihnen (49 %) sind selbstständig, das ist oft mehr als prekär.

Perspektiven: Parteien und Verbände und auch die Altenberichtskommission der Bundesregierung, empfehlen seit vielen Jahren unisono die Aktivierung des höheren Lebensalters und propagieren darüber hinaus den Wunsch „der Alten“ nach produktiver Aktivität. Es geht dann um Erhöhung des Rentenalters oder darum, wie neue Potentiale für ehrenamtliche Arbeit und Freiwilligendienste gewonnen werden können. In der praktischen Arbeit begegnen wir oft äußerst zufriedenen RuheständlerInnenn, die ihre Entpflichtung genießen – und ebenso agilen weiblichen Unruheständlerinnen, die endlich ihren eigenen Interessen nachgehen und nicht mehr für das Wohl anderer in die Pflicht genommen werden wollen. Dazu brauchen alle eine ausreichende Rente. Es kann nicht immer nur um die Produktivität von Menschen gehen. Alte Menschen sollen auch dann akzeptiert werden, wenn sie sich scheinbar sinnlos die Zeit vertreiben.

 

Gisela Notz ist Mitglied der Redaktion von Lunapark21

Zuletzt erschienen: Gisela Notz, Kritik des Familismus. Theorie und soziale Realität eines ideologischen Gemäldes, Stuttgart: Schmetterling, theorie.org. 2015, 10 €.

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