Edathy, das BKA und die Ökonomie der Aufmerksamkeit. seziertisch nr. 162

Georg Fülberth. Lunapark21 – Heft 25

Der von dem Philosophen Georg Franck 1998 geprägte Begriff „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ (auch: „Aufmerksamkeitsökonomie“) hat seine am leichtesten fassbare operative Bedeutung in der Werbebranche, aber auch im politischen Geschäft. Es geht um den Versuch, Waren und Personen einen höchstmöglichen Bekanntheitsgrad zu verschaffen. Aufmerksamkeit wird als knappes Gut, um das konkurriert werden muss, verstanden.

An derlei Aufmerksamkeitswettbewerb sind diejenigen interessiert, die etwas verkaufen oder in anderer Weise in der Öffentlichkeit ankommen wollen. Nicht alle legen Wert darauf, sondern möchten möglichst nicht auffallen: Kriminelle etwa oder auch Verschwörer. Manchmal profitieren sie sogar von der Ablenkung, die durch Publicity für Ereignisse jenseits ihres eigenen Wirkungskreises entsteht.

Nehmen wir als Beispiel die Aufregung um den Fall des ehemaligen Bundestagsabgeordneten Sebastian Edathy. Dieser legte sein Mandat nieder, weil staatsanwaltliche Ermittlungen wegen des Erwerbs von kinderpornografischem Material gegen ihn angestrengt worden waren. Mittlerweile verlautet, seine Verhaltensweise sei strafrechtlich nicht relevant. Falls das so sein sollte, handelt es sich lediglich um eine Privatangelegenheit.

Der Aufmerksamkeit tut dies keinen Abbruch. Sex sells, und besonders dann, wenn Prominente damit in Verbindung gebracht werden. Ernsthaftigkeit stellt sich dann ein, wenn vermutet werden muss, dass Wehrlose – Kinder, oft von armen Familien aus in Unterentwicklung verbliebenen Ländern – missbraucht werden. Eine Ausweitung des Strafrechts auf kommerzielle Anbieter oder auch ihre Kunden liegt hier nahe. Hiervon zu trennen ist eine Skandalisierung scheinbar oder tatsächlich abweichenden, aber niemanden schädigenden Verhaltens, die oft ganz anderen Zwecken, nämlich der gesellschaftlichen Reglementierung dient. Ein Beispiel war 1900 die nach einem Zuhälter benannte und von Wilhelm II. persönlich angeregte „Lex Heinze“: eine Ergänzung des Strafgesetzbuches mit einem „Kunst- und Schaufensterparagraphen“, der gegen angeblich „unzüchtige“ Darstellungen gerichtet war und die Möglichkeiten der Zensur erweiterte.

Zu den Strategien der Public Relations gehört die Ablenkung: Aufmerksamkeit soll umverteilt werden. Im Fall Edathy geschah dies durch die Thematisierung eines Fehlverhaltens des Innenministers, der eine geheime Information weitergegeben und damit das Amtsgeheimnis verletzt hatte. Damit schlug koalitionsintern die Stunde der Aufmerksamkeitsdealer: nunmehr musste auf Fehlverhalten an der SPD-Spitze hingewiesen werden.

Sebastian Edathy brachte sein Malheur in Verbindung mit der Tatsache, dass er 2012/2013 Vorsitzender des NSU-Untersuchungsausschusses gewesen ist und dabei hart mit den Vertretern des Bundeskriminalamtes (BKA) umgegangen sein soll. Von da aus bis zu der Vermutung, hier liege eine Intrige von rechts vor und künftige Rechercheure sollten eingeschüchtert werden, ist es nicht weit. Aber derlei lässt sich nicht beweisen, kann auch Ergebnis einer paranoiden Verschwörungstheorie sein oder – mit Edathy als Urheber – wieder einmal (diesmal ablenkende) Öffentlichkeitsarbeit.

Inzwischen wurde bekannt, dass ein Beamter des Bundeskriminalamtes selbst pornografisches Material bezogen hat, dass sein Verhalten offenbar eindeutig strafbar gewesen ist und von der Behörde vertuscht wurde. Dies könnte uns ein weiteres Mal in eine Falle der Aufmerksamkeitsökonomie locken und uns von Wichtigerem ablenken. Nämlich: Wir sollten uns stattdessen unserem zweiten Hauptsatz in der Theorie der Aufmerksamkeitsökonomie zuwenden: Nicht nur Sichtbarkeit bringt Rendite, sondern auch Unsichtbarkeit. Hat sich der Lichtkegel in eine bestimmte Richtung gedreht, können andere Tatsachen, die er nicht erfasst, unter die Wahrnehmungsschwelle gedrückt werden. Zum Beispiel:

Von 2000 bis 2006 hat der so genannte Nationalsozialistische Untergrund (NSU) zehn Menschen umgebracht. Polizei und Verfassungsschutz haben nichts unternommen, dies zu verhindern oder wenigstens im Nachhinein aufzuklären: sie lenkten die Aufmerksamkeit der veröffentlichten Meinung in eine Richtung weitab vom Täterkreis. Der Inlandsgeheimdienst setzte V-Leute ein und finanzierte indirekt die NPD. All dies ist bekannt. Aber es erregt – jenseits einer Antifa-Szene – niemanden. Die Aufmerksamkeit ist anderweitig verteilt.

Merke: Bei jeder Sensation sollte gefragt werden, welche wichtigere Nachricht durch sie unterdrückt wird und wer die Unaufmerksamkeits-Rendite einstreicht.

Georg Fülberth lebt in Marburg an der Lahn. Er war an der dortigen Universität Professor für Politikwissenschaften. Sein „Seziertisch“ erscheint in Lunapark21 seit der ersten Ausgabe Anfang 2008.

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