Menschenrecht auf Zins

Deflation, Zinssenkung und das Ende des Kapitalismus
Lucas Zeise. Lunapark21 – Heft 26

Was üblicherweise tabu ist, die Kritik an der Wirkungsweise des Kapitalismus selbst und an den staatlichen Maßnahmen, die dazu dienen, das System zu stabilisieren, wurde plötzlich Allgemeingut. Die winzige Zinssenkung der Europäischen Zentralbank Anfang Juni war Anlass zu lautem publizistischen Getöse – jedenfalls in Deutschland. Der Sparer werde enteignet, sein Menschenrecht auf Zins werde missachtet, war der am häufigsten vorgebrachte Vorwurf.

Untermalt wurde diese Feststellung mit den durchaus realen Schwierigkeiten der Versicherungsunternehmen, die versprochene Garantierendite auf die Lebensversicherungen auch zu erzielen, sowie die von den Banken auf praktisch Null gesenkten Zinsen auf Sparguthaben und Tagesgeldkonten. Das war die einfache Variante der Kritik. Gewichtiger kamen die Journalisten daher, die beim Börsenfernsehen gut aufgepasst hatten: Dort hatten Händler und Analysten mehrmals am Tag wiederholt, die von den Notenbanken verteilte üppige Liquidität treibe die Aktienkurse und lasse den Spekulanten praktisch keine andere Wahl, als weiter in riskanten Finanzanlagen (wie Aktien) zu investieren. Deshalb sei der Deutsche Aktienindex Dax im 26. Jahr seiner Existenz auf über 10000 Punkte geklettert.

Wirklich grundsätzlich wurde Spon (Abkürzung für Spiegel-Online). Ein gewisser Christian Rickens schlussfolgerte messerscharf schon in der Überschrift aus dem „Zinsentscheid der EZB: Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen.” Schon immer sei das Ende eines Systems dann besonders schwer zu erkennen gewesen, wenn man selber Teil des Systems sei.
Rickens aber gelingt das Kunststück. Denn „wenn das seit Jahrzehnten praktizierte westliche Wirtschaftsmodell, sich immer niedrigere Wachstumsraten mit immer höheren Staatsschulden zu erkaufen, an seinem Schlusspunkt angelangt ist?” Dann, ja dann – was? Tiefsinniger und radikaler kann keine Antwort formuliert werden als sie unser Spon-Autor gibt: „Zunächst einmal müssten wir dann wahrscheinlich aufhören, unser System als Kapitalismus zu bezeichnen – denn der beruht ja gerade darauf, dass Kapital einen Preis hat und auch in risikofreien Anlageformen Rendite erzielt.”

0,1-Prozent-Revolution
Herrn Rickens Abgesang auf den Kapitalismus und das Reden darüber war veranlasst von einem Detail der EZB-Zinssenkung, das ganz besondere Aufmerksamkeit genoss. Den Leitzins, zu dem die EZB großflächig einmal in der Woche Kredite an die Banken der Eurozone verteilt, flankiert sie mit zwei Zinssätzen, zu denen die Banken jeden Tag Notkredit erhalten oder überschüssiges Geld bei der EZB parken können. Ersterer liegt weit (meist ein Viertel Prozentpunkt) über, letzterer weit (ebenfalls ein viertel Prozentpunkt) unter dem Leitzins, was zugleich das Niveau ist, auf welchem auf dem Geldmarkt unter Banken normalerweise gehandelt wird. Die Zentralbank hilft mit diesen Fazilitäten Banken aus der Klemme, die mit ihren Dispositionen nicht komplett klar gekommen sind. Sie müssen daher für Notkredit und Noteinlage weit außerhalb des Marktniveaus liegende Strafsätze zahlen bzw. vereinnahmen. Entsprechend gering sind im Regelfall die Beträge, mit denen Banken diese Notfazilitäten beanspruchen.

Bis zum 5. Juni betrug der Leitzins 0,25 Prozent; der Zins für den Notkredit dementsprechend 0,5 und der für Noteinlagen 0,0 Prozent. Mit der minimalen Leitzinssenkung von 0,25 auf 0,15 Prozent rückte die EZB den Noteinlagenzins fast ganz konsequent unter 0, nämlich auf minus 0,1 Prozent. Die Banken, denen es im Lauf des täglichen Handels nicht gelungen ist, alle Geldbeträge anderswo als Kredit unterzubringen, müssen also seit dem 6. Juni eine Gebühr von 0,1 Prozent bezahlen. Das ist die ganze revolutionäre Umwälzung. Die Belanglosigkeit des Sachverhalts hielt auch ehemalige Zentralbanker nicht davon ab, auf dem Thema herumzureiten. Der Bankenverband (der privaten Banken) gab sich großzügig. Man werde den zu zahlenden Strafzins nicht an die Kundschaft weitergeben, ließ er verlauten. Das fällt ihnen leicht, denn da der Strafzins kaum je anfällt, gibt es auch keine Kosten weiterzugeben. Dabei haben die Herren Übung darin, Gebühren auf Einlagenkonten der Kunden zu erheben. Schon seit dieser Innovation hätte man Spon folgend nicht mehr von Kapitalismus reden dürfen.

Ein wenig hat vermutlich sogar Herr Rickens recht. Die Lage ist außergewöhnlich. Noch nie zuvor hat die EZB den Leitzins so tief gesenkt, und auch ihre Vorgängerin aus DM-Zeiten die Bundesbank nicht. Der extrem niedrige Zins reflektiert einen Notstand, der mit Rezession, Stagnation oder Wachstumsschwäche nur ungenügend beschrieben ist. Im Eurogebiet beträgt die (bereits nach unten manipulierte) offizielle Arbeitslosenquote im Durchschnitt 11,7 Prozent, in Italien 12,6 Prozent, in Spanien 25,1 und in Griechenland 26,5 Prozent. Arbeitslosigkeit ist für die Betroffenen meist eine Katastrophe, für die Volkswirtschaft bedeutet sie brachliegende Produktionskapazität. Die Länder im Süden der Eurozone verarmen. Aber auch Kernländer wie Frankreich oder die Niederlande befinden sich in schlechtem Zustand. Selbst Deutschland, das dank der Staatsschuldenkrise von Kapitalzufuhr profitiert, weist erschreckend niedrige Investitionen auf. Die Eurozone ist auf dem Globus dasjenige Gebiet, das von der 2007 offen ausgebrochenen kapitalistischen Weltwirtschaftskrise am schwersten betroffen ist.

Stagnation ist da – Deflation droht
Aus der wirtschaftlichen Schwäche ergeben sich zwei Konsequenzen, die die Zentralbank zum Handeln herausfordern. Erstens sinkt die Kreditvergabe der Banken an Handels- und Industriekapital. Zweitens sinkt die Preissteigerungsrate.

Beide sind unmittelbare Erscheinungsformen des stagnativen, krisenhaften Zustands der Volkswirtschaft. Weil Nachfrage fehlt, erweitern die Kapitalisten ihre Produktionskapazitäten nicht, sie investieren nicht und brauchen daher keine neuen Kredite. Die Preise steigen nur wenig oder nur in den monopolistisch strukturierten Bereichen der Ökonomie, weil bei kümmerlicher Nachfrage jede Preiserhöhung zu Absatzeinbußen führt. Die Inflationsrate geht seit einigen Jahren in der Eurozone zurück. Zuletzt war sie im Durchschnitt bei 0,5 Prozent im Jahresvergleich angekommen. In dem von der Krise besonders betroffenen Süden des Eurogebiets geht das allgemeine Preisniveau bereits zurück. Das ist der Zustand, der allgemein Deflation genannt wird – also das Gegenteil von Inflation.

Für Bürger mit stabilem und regelmäßigem Einkommen ist Deflation durchaus angenehm. Sie können von Monat zu Monat mehr Waren kaufen. Für eine kapitalistische Wirtschaft ist Deflation dagegen von Übel. Sie verstärkt die Stagnation. Denn die wenigen Kapitalisten, die noch investieren wollen, verschieben das, weil sie damit rechnen können, dass die Maschinen und Bauten, die sie brauchen, demnächst zu niedrigeren Kosten erhältlich sind. Darüber hinaus sind sie weniger geneigt, Schulden zu machen, denn sie müssen damit rechnen, dass der Kreditbetrag, wenn er am Ende der Laufzeit zurückgezahlt werden muss, mehr wert ist als heute. In der Deflation verliert Geld nicht, sondern gewinnt an Wert.

Bei beginnender Deflation und mangelnder Kreditvergabe muss die Zentralbank handeln und den Zins, sofern er noch positiv ist, so weit wie möglich senken. Man kann und sollte die Politik der EZB an vielen Stellen kritisieren, zum Beispiel dass sie an den verheerenden Zwangs- und Sparauflagen gegen Griechenland, Spanien, Portugal im Rahmen der Troika teilnimmt, zum Beispiel auch, dass sie zu Beginn der Weltwirtschaftskrise in völliger Verkennung der Lage die Zinsen sogar noch erhöht und dann viel zu spät gesenkt hat. Man kann und sollte auch kritisieren, dass sie nichts getan hat, um den Spekulations- und Finanzboom vor 2007 zu bremsen.

An dieser letzten Zinssenkung gibt es jedoch nur das zu kritisieren, dass sie allein nicht ausreicht. Um aus dieser tiefen und hartnäckigen ökonomischen Krise zu kommen, sind massive Maßnahmen in Richtung Umverteilung, sowie Enteignung der großen Vermögen notwendig. Wenn das erreicht werden kann, ist auch wieder Gelegenheit, über das Ende des Kapitalismus nachzudenken und darüber, wie wir diesem Ende näher kommen.

Lucas Zeise ist Wirtschaftsjournalist; er lebt in Frankfurt/M. und schreibt seit Gründung von Lunapark21 in dieser Zeitschrift. Sein zuletzt erschienenes Buch: Euroland wird abgebrannt – Profiteure, Opfer, Alternativen (PapyRossa · 142 Seiten · 11,90 Euro).

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