Europäischer Bonapartismus. seziertisch nr. 163

Georg Fülberth. Lunapark21 – Heft 26

Als das Bundesverfassungsgericht gefür die Wahl zum Europäischen Parlament alle Sperrklauseln aufhob, ratifizierte es eine längst feststehende Tatsache: Die EU ist keine parlamentarische Republik. Wäre sie das, dann wäre die Regierung ein Produkt der Volksvertretung, und diese hätte das Budgetrecht. Beides ist nicht der Fall.

Weil das so ist, sind laut Bundesverfassungsgericht keine stabilen Mehrheiten vonnöten. Angeblich entspricht das Wählerverhalten diesem Zustand der Verantwortungslosigkeit. Die Beteiligung ist niedrig, es werden Spaßparteien nach Straßburg und Brüssel geschickt, die rabiate Rechte ist stärker geworden.

Der windige Eindruck trügt. In Wirklichkeit ist das Ergebnis vom 25. Mai 2014 aussagekräftig. Dazu trägt gerade das großzügige Wahlrecht bei. Hierdurch kommt ans Licht, was lange unter der Decke gehalten wurde.
Zum Beispiel die reale Stärke des Front National in Frankreich. Sie wurde in der Vergangenheit zwar schon in seinen guten Platzierungen bei den Wahlen zum Staatspräsidenten sichtbar, aufgrund des Wahlmodus aber nicht
in der Nationalversammlung. Ähnlich ist es in Großbritannien. Das relative Mehrheitswahlrecht ließ bislang meist die Stimmen von Parteien verfallen, die zwar einen beträchtlichen Anhang haben, der aber nirgends lokal so massiert ist, dass er in einem einzigen Wahlkreis einen Kandidaten durchbringen kann (und wenn doch, bleibt das Ergebnis hinter ihrer tatsächlichen Stärke zurück). Fallen diese Hürden weg, zeigt sich: der faschistoide Front National und die nationalistische United Kingdom Independence Party sind die stärksten Parteien in Frankreich und in Großbritannien. Hinzu kommt das gute Abschneiden so genannter rechtspopulistischer Parteien in Skandinavien, in Österreich und mit der AfD ja auch in Deutschland.

Es handelt sich nicht um ein Ausreißer-Ergebnis, sondern um eine Tendenz. Welche?

Mag über Regierungsbildung, Steuern oder gar Außenpolitik am 25. Mai auch nicht entschieden worden sein, so wurde zu einem Thema doch ein klares Votum laut: zur Verteilungsfrage. Sie wurde allerdings nicht vertikal gestellt, sondern horizontal, nicht als soziale, sondern als nationale Angelegenheit. In Nord-, Mittel- und Westeuropa fanden Parteien Zulauf, die irgendeine Umverteilung zugunsten der ärmeren Peripherie fürchten. Es ist Wohlstandschauvinismus, dem scheinbar paradoxerweise auch Menschen anhängen, die in Wirklichkeit kaum noch etwas zu verlieren haben.
Griechenland verhielt sich dazu spiegelverkehrt. Syriza wurde stärkste Partei. Sie vertritt das Konzept einer europäischen Sozialunion, das in den reicheren Ländern mehrheitlich abgelehnt wird.

Die bisherige Europapolitik wurde von einer großen Koalition aus der Europäischen Volkspartei (EVP) und den Sozialdemokraten („Progressive Allianz der Sozialisten & Demokraten“) vertreten. Auf ihr Konto gehen Austeritätspolitik (u.a. mit dem Fiskalpakt), Abschottung gegen Flüchtlinge und Forcierung der Ungleichheit zwischen reichen und armen Ländern in der Union. Diese Koalition ist zugunsten der Ränder des Parteiensystems geschrumpft. Zugleich aber wurde ihre Politik bestätigt, sie hat sogar eine breitere Basis als bisher: die faschistoiden und nationalistischen Parteien vertreten nämlich das gleiche Konzept, nur entschiedener. Sie wurden gewählt, weil Europäische Volkspartei und Sozialdemokratie nicht scharf und erfolgreich genug vorgegangen seien.

Durch die Aufstellung von Spitzenkandidaten ist 2014 der Eindruck erweckt worden, als könnten die Wählerinnen und Wähler über die Person des künftigen Präsidenten der Europäischen Kommission entscheiden. Die meisten Stimmen erhielt die EVP von Jean-Claude Juncker. Er steht – ebenso wie der Sozialdemokrat Martin Schulz – für den bisherigen Kurs der EU. Als mehrerer Mitglieder der Europäischen Rats sich gegen seine Wahl sträubten, riefen Daniel Cohn-Bendit und Jürgen Habermas zu einer „Weiterentwicklung der europäischen Demokratie“ auf. Das Ergebnis der Wahl vom 25. Mai solle darin bestehen, dass einer der Verfechter der Politik der regionalen sozialen Spaltung Europas Präsident der Europäischen Kommission wird.
Die quasi-plebiszitäre Bestätigung einer vorgegebenen Exekutiv-Politik gehört zu den Merkmalen des Bonapartismus.

Georg Fülberth lebt in Marburg an der Lahn. Er war an der dortigen Universität Professor für Politikwissenschaften. Sein „Seziertisch“ erscheint in Lunapark21 seit der ersten Ausgabe Anfang 2008.

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