Projekt Armenhaus Ukraine. kolumne winfried wolf

Mit dem IWF-Masterplan und der Unterstützung aus Brüssel und Berlin in die mehrjährige Depression
Winfried Wolf. Lunapark21 – Heft 27

Der Umgang der US-Regierung, der Europäischen Union und der deutschen Bundesregierung mit der Ukraine ist Ausdruck eines grenzenlosen Zynismus gegenüber dem Schicksal von Millionen Menschen. Das größte Flächenland Europas mit seinen 45 Millionen Einwohnern stand bereits Ende 2013 am Rande des wirtschaftlichen Zusammenbruchs, wobei alle vorausgegangenen Regierungen in Kiew zu diesem Zustand beigetragen hatten. Die Politik des Westens mit der Zuspitzung der politischen und wirtschaftlichen Krise ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass es entweder zu einem Staatsbankrott oder zu einem lang anhaltenden Niedergang nach der Art kommt, wie ihn Griechenland seit fünf Jahren erlebt. In beiden Fällen hat dies katastrophale Folgen für die ukrainische Bevölkerung. Am Rande der Europäischen Union – und mit aktiver Unterstützung durch dieselbe – entsteht ein riesiges Armenhaus.

Die Ukraine bildet bereits geographisch ein Scharnier zwischen Russland und der Europäischen Union. Dies fand in den vergangenen 20 Jahren auch dadurch seinen Ausdruck, dass die Handelsvolumina zwischen der Ukraine und der EU einerseits und der Ukraine und Russland andererseits immer bestimmend für den gesamten Außenhandel des Landes waren. Während im Zeitraum 2000 bis 2007 die Exporte in die EU deutlich größer als diejenigen nach Russland waren, lagen diese Handelsströme seit 2009 fast exakt auf gleich hohem Niveau: 2013 gingen gut 25 Prozent der ukrainischen Exporte nach Russland und gut 25 Prozent in die Europäische Union.

Bereits diese relativ ausbalancierte Struktur verdeutlichte, dass jede Hinwendung zu einer der beiden Seiten heißt, dass man sich ein Bein abhackt. Der Sieg der Maidan-Bewegung von Anfang 2014, der zum Sturz der gewählten Regierung Viktor Janukowitsch führte, implizierte bereits die einseitige Orientierung auf die EU. Diese wurde kurz danach – und noch vor den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen – von der Interimsregierung festgeschrieben, indem das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union unterzeichnet wurde. Bereits am 22. März jubilierte die Tageszeitung Die Welt: „EU bindet die Ukraine fest an den Westen“. Damals äußerte der ukrainische Ministerpräsident Arseni Jazenjuk: „Nun ist es für die Ukraine dringend geboten, dass Energie in umgekehrter Richtung fließt.“ Russland habe den Gaspreis verdoppelt. Nun müsse die Ukraine „den Preis für Frieden, Stabilität, Sicherheit und Werte bezahlen“. Und da möge der Westen, bitteschön, helfen.

Diese Haltung war in doppelter Weise naiv. Erstens weil der Kapitalismus nun einmal keine karitative Veranstaltung ist. Zweitens, weil Energie selbst dann, wenn der Westen das wollte, auch nicht mit viel EU- und IWF-Geld zum Fließen gebracht werden kann. Die EU selbst bezieht rund 30 Prozent ihrer Energie aus Russland und ist auf absehbare Zeit außerstande, ein großes Land wie die Ukraine auch nur annähernd mit Energie zu versorgen. Und so kam es, wie es kommen musste: Moskau stellte im Juni die direkten Gaslieferungen an die Ukraine ein und pocht nun darauf, dass offene Rechnungen im Wert von 4,3 Milliarden US-Dollar für Gas, das 2013 und 2014 bereits geliefert wurde, bezahlt werden. Darüber hinaus sei ab sofort jede weitere Lieferung per Vorkasse zu begleichen. Die Folgen der Energiekrise dürften im kommenden Winter für Hunderttausende äußerst bitter zu spüren sein. Wobei viele Stuben nicht deshalb kalt bleiben werden, weil kein Gas geliefert würde. Sondern weil die Regierung in Kiew die Energiepreise für die Haushalte bereits drastisch anhob und erklärt hat, diese noch stärker zu erhöhen.[1]

Dabei brachte die neue Regierung und der neue Präsident eben nicht, wie Jazenjuk im März tönte, „Frieden, Stabilität und Sicherheit“. Vielmehr setzte die Regierung in Kiew die Armee gegen die Aufständischen in Marsch und ließ diese – mit Rückendeckung aus Washington, Brüssel und Berlin – einen sechs Monate dauernden Krieg gegen die Ostukraine führen. Und das kostet. Mindestens zwei zusätzliche Prozentpunkte Minuswachstum des ukrainischen Bruttoinlandsprodukts (BIP). Das deutsche Handelsblatt schrieb Ende August: „Die wirtschaftliche Lage in der Ukraine verschlechtert sich in einem atemberaubenden Tempo.“ (27.8.)

In der Ostukraine sind große Teile der Wirtschaft regelrecht kollabiert. Die industrielle Fertigung in diesem Gebiet, das immerhin das industrielle Zentrum der Ukraine darstellt, soll um mehr als 50 Prozent eingebrochen sein. Der Krieg selbst hat bislang nicht nur 2500 Menschen das Leben gekostet, zehntausende Verletzte und mehrere hunderttausend Flüchtlinge zur Folge gehabt. Er ist vor allem mit der weitgehenden Zerstörung der Infrastruktur der betroffenen Region verbunden. Selbst wenn man unterstellt, dass der Anfang September geschlossene Waffenstillstand hält und es zu einem tragbaren Kompromiss zwischen der Ostukraine und der Zentralregierung in Kiew kommt, so ist doch völlig offen, wer die Milliarden Euro an Kosten, die die Beseitigung des Kriegselends kosten wird, aufbringen soll. Und vor allem: Wer dazu bereit ist! Vieles spricht dafür, dass weder die EU, noch Poroschenko, Jazenjuk & Co dazu bereit sein werden.

Wenn Kiew die Ostukraine zumindest aktuell abschreiben sollte, dann auch deshalb, weil in der Ukraine auch ein Kampf unterschiedlicher Oligarchen-Cliquen um die Fleischtröge, die nun mit EU-und IWF-Geld gefüllt werden sollen, tobt. Die Gruppe, die mit Stahl und Kohle verbunden ist – und die u.a. von den Milliardären Rinat Achmetow und Viktor Pintschuk bestimmt wird – hat derzeit das Nachsehen. Als Aufsteiger gelten Agro-Oligarchen, Finanzhaie wie der Großbankier Igor Kolomojski und der „Schokoladen-Milliardär“ und Medienmogul Petro Poroschenko, der im Nebenberuf den ukrainischen Präsidenten mimt.

Im Zweiten Weltkrieg gab es die Erkenntnis: „Nach dem ersten deutschen Tank / Kommt auch schon die Dresdner Bank“. Heute könnte es heißen: „Nach dem ersten Krisenton / Kommt auch schon der Währungsfonds“. Im September präsentierte der Internationale Währungsfonds (IWF) ein mehr als 100-seitiges Dokument zur Lage und Perspektive der Ukraine.[2] Das Papier enthält eine realistische Darstellung der Krise, eine Beschreibung der düsteren Perspektiven und äußerst konkrete Maßnahmen, zu denen sich die Regierung in Kiew gegenüber dem IWF bereits verpflichtete, um neue Milliarden-Hilfen zu bekommen. So sollen u.a. die Ausgaben für Erziehung und Bildung massiv gesenkt, die Klassengrößen in den Schulen erheblich vergrößert, die Unterrichtstunden je Lehrkraft erhöht, die Renten deutlich gesenkt, die Ansprüche auf Pensionen und Renten reduziert oder ganz gestrichen und die Mehrwertsteuer für Agrarprodukte und Lebensmittel erhöht werden.[3] Nicht zu vergessen: Die Ausgaben für Rüstung und Militär steigen deutlich an.

Und was werden die Folgen sein? Auch das weiß der IWF bereits heute: Die Ukraine wird binnen weniger Jahre überschuldet sein – nicht zuletzt als Folge der genannten Maßnahmen, die einem Abwürgen des inneren Marktes gleichkommen. Gemessen am BIP sollen die öffentlichen Schulden von 40 Prozent im Jahr 2013 auf 73,4 Prozent 2015 ansteigen. Der IWF geht davon aus, dass das ukrainische Bruttoinlandsprodukt im laufenden Jahr 2014 um 6,5 Prozent rückläufig ist. Die industrielle Produktion bricht 2014 im Landesdurchschnitt sogar um 15 bis 20 Prozent ein. Auch der große Landwirtschaftsektor leidet – Russland hat einen Einfuhrstopp für ukrainische Agrarprodukte verhängt. Gleichzeitig sollen die – bereits sehr niedrigen – Reallöhne bei den Menschen, die noch Beschäftigung haben, allein 2014 um bis zu 10 Prozent reduziert werden. Gleichzeitig wird die Arbeitslosenquote, die 2013 offiziell bei 7,2 Prozent lag, bis Ende 2014 deutlich in den zweistelligen Bereich aufsteigen.

Einen vergleichbaren Absturz einer einzelnen Ökonomie gab es nur auf dem Höhepunkt der weltweiten Krise 2008. Und am Beginn der tiefen Krise in Griechenland.

Winfried Wolf ist Chefredakteur von Lunapark21

Anmerkungen:

[1] In einem an den IWF gerichteten, verpflichtenden „letter of intend“ (Absichtserklärung), datiert auf den 18.8.2014 und unterzeichnet u.a. von Präsident P. Poroschenko und Ministerpräsident A. Jazenjuk heißt es: „We will intensify our actions to make shure Naftogaz (der ukrainische nationale Energieversorger; W.W.) gets its fair share of customers paymens in the heating sector.“

[2] International Monetary Fund – Ukraine: First Review under the Stand-by arrangement. September 2014.

[3] Unter dem Stichwort “education reform” heißt es in dem IWF-Dokument: „The education system is overstaffed and oversupplid with buildings. […] The authorities recognize the potential for large cost-efficiancy gains in this sector.” (S. 19)

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