Das schwächste Kettenglied?

Staat und Kapital am Hafen von Piräus
Sebastian Gerhardt. Lunapark21 – Heft 29

Eine der ersten Aktionen der neuen griechischen Regierung war der offizielle Stopp der Privatisierung des Hafens von Piräus. Dafür zuständige Beamte wurden gefeuert, die chinesische Regierung war verärgert. Denn der aussichtsreichste Bieter für den Erwerb von knapp 50 Prozent der Anteile an Griechenlands größtem Hafen ist die China Ocean Shipping Group Company (COSCO). Seit 2009 betreibt das Staatsunternehmen mit Zentrale in Peking bereits zwei der drei Containerterminals in Piräus. Spätestens seit dem Brüsseler Kompromiß vom 20. Februar sieht der Konzern sich wieder auf dem Weg zur Umsetzung seiner strategischen Ziele. Es zeigt sich: Auch die Veräußerung an ein öffentliches Unternehmen eines nominalkommunistischen Landes kann eine beinharte Privatisierung sein.

Es geht um viel in Piräus. Nicht aus historischen Gründen: Dass Themistokles, der Sieger von Salamis, hier einst die Basis für die athenische Seemacht schuf, ist lange her. Wenn die Chroniken stimmen: 2507 Jahre. Sicher ist die Zuflucht in der stillen Bucht in allen Berichten über legendäre Fahrten oder Irrfahrten, bei Odysseus oder Iason, zu finden. Nur soll die Bucht von Piräus heute gar nicht still sein. Hektische Betriebsamkeit statt archaischer Erholung lautet das Motto. Mannschaften auf heutigen Schiffen haben in kurzen Liegezeiten für einen Ausflug in verruchtes Hafenviertel kaum Gelegenheit. Der Schlager „Ich bin ein Mädchen von Piräus“ bzw. „Ein Schiff wird kommen“ stammt aus dem Jahr 1960. Selbst die moderneren Symbole der Schifffahrtsromantik, die weit ausstrahlenden Leuchttürme, haben in einer Zeit digitaler Navigation ihre alte, lebensrettende Funktion weitgehend verloren. Nur für Anker und Ankerkette hat sich noch kein Ersatz gefunden, so dass Linke noch immer nach dem schwächsten Kettenglied suchen können.

Es geht um viel in Piräus. Als Forscher der Uni Oldenburg vor einigen Jahren die Ströme des globalen Schiffsverkehrs analysierten, gingen sie über die bekannten Daten zum Containerumschlag, Frachtmengen und Passagierzahlen hinaus. Denn manche Häfen werden allein aufgrund ihrer Lage an den großen Seeverkehrswegen angelaufen. Die Forschergruppe nutzte deshalb die GPS-Daten über die Bewegungen von Frachtschiffen im Jahr 2007 und konnten so die Bedeutung verschiedener Häfen im globalen Netz der Schifffahrt bestimmen. Piräus landete auf Platz 6. Nur Panama- und Suezkanal, Shanghai, Singapur und Antwerpen musste der Hafen bei Athen den Vortritt lassen. (Hamburg: Platz 15.) Neben der idealen Lage zwischen Suezkanal und Bosporus schlägt sich in dieser Platzierung von Piräus auch eine nationale Besonderheit nieder: Die Handelsflotte griechischer Reeder hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg zur größten der Welt entwickelt. Ihnen gehören heute 18 Prozent der weltweiten Frachtkapazitäten. Japan (knapp 15 Prozent), China (11,5 Prozent) und die Bundesrepublik (7,9 Prozent) folgen auf den Plätzen zwei bis vier.

Doch auf 2007 folgte zunächst eine Weltwirtschaftskrise mit einem stagnierendem Handel und einbrechenden Frachtraten. Die Krise traf Piräus besonders hart: Wurden 2007 fast 1,4 Millionen TEU-Container-Einheiten umgeschlagen, waren es 2008 nur noch knapp 434 Tausend: Ein Minus von fast 70 Prozent.[*] Der gesamte Warenumschlag in Tonnen halbierte sich. Es gab weniger Aufträge für Werften und Dienstleistungsfirmen um den Hafen. In dieser Situation konnte auch ein langer Streik im Herbst 2009 den Einstieg von COSCO nicht verhindern. Mit einer Anzahlung von 500 Millionen Euro erwarb das Unternehmen die Konzession, einen Teil des Hafens für 30 Jahre zu betreiben. Über die gesamte Laufzeit des Vertrages – inzwischen wurden 35 Jahre daraus – werden insgesamt 3,3 Milliarden Euro fällig. Der neue Betreiber drückte sofort die Löhne. Heute bekommen die Arbeiter in diesem Teil des Hafens etwa 1000 Euro im Monat: Mehr als der griechische Durchschnitt, doch weniger als ein Drittel des Tariflohns vor Krise und Übernahme.

Für den chinesischen Staatskonzern hat sich die Investition von etwa 1 Milliarde Euro dagegen gelohnt. Der allgemeine Frachtumschlag und das Passagieraufkommen haben in Piräus das Vorkrisenniveau noch nicht wieder erreicht. Aber der Containerumschlag lag 2014 schon bei 3,7 Millionen, etwa 80 Prozent entfallen auf die Kais der COSCO. Bei der griechischen Regierung wirbt der Investor mit 1000 neugeschaffenen Jobs. Investitionen von weiteren 500 Millionen sind bereits angekündigt. 2016 soll die Kapazität 6 Millionen Containern pro Jahr erreichen – weit von den großen asiatischen Häfen entfernt (Shanghai: etwa 34 Millionen), in Europa aber unter den Top Ten.

Das Geschäft in Piräus wird weiter zulegen: Ägypten arbeitet neben einem Ausbau des Suezkanals an einer Ergänzung: auf 74 der 194 Kilometer der Verbindung zwischen Rotem und Mittelmeer soll eine Parallele geschaffen werden. Und der türkische Präsident Erdogan verkündete 2011, dass ein Kanal zwischen Schwarzem und Marmarameer in West-Istanbul ab 2023 den Schiffsverkehr im Bosporus entlasten solle. Profitstreben und Technikglaube gehen bei diesen Projekten eine unheilige Allianz ein.

Allerdings: Ohne solche Projekte gäbe es die heutige griechische Schifffahrt nicht: Die Eröffnung des Suezkanal 1869 lenkte die Welthandelsströme zwischen Europa und Asien wieder durch das Mittelmeer. Vor dem Zweiten Weltkrieg nahm die griechische Handelsflotte hinter Großbritannien und Norwegen den dritten Platz in der Welt ein. Zwischen 1940 und 1945 verlor sie 72 Prozent ihres Bestandes. Am Ende waren die meisten Schiffe versenkt, die Hafenanlagen wie die Mehrzahl der Leuchttürme von den deutschen Besatzern zerstört.

Der Wiederaufstieg nach dem Krieg begann mit massiver Unterstützung der USA. Sie überließ griechischen Reedern Liberty-Frachtschiffe, die nicht mehr für den Transport von Militär und Munition gebraucht wurden. Sie schickte US-amerikanische Militäringenieure für die Technik. Und sie sorgte für den kapitalistischen Rahmen: Als der britische Verbündete nicht mehr für einen Verbleib Griechenlands in der „westlichen Welt“ garantieren konnte, sprangen die USA ein. Truman-Doktrin und Marshallplan waren die Antwort der USA auf die Erfolge der griechischen Kommunisten im Bürgerkrieg. Für die einheimischen herrschenden Klassen fiel dabei einiges ab: Vom Schutz ihres Eigentums über Bauinvestitionen in neue Infrastruktur bis zum Einstieg in den Tourismus. Die griechischen Reeder kombinierten die geographische Nähe und die Deckung durch die USA zum großen Einstieg in das Ölgeschäft. Die Steuerfreiheit für griechische Schifffahrtsunternehmen, die von der Militärjunta von 1967 in den Verfassungsrang erhoben wurde, zielt weniger auf den notwendigen Fährverkehr zwischen den Inseln als auf den Schutz ganz anderer, größerer Gewinne.

Doch von diesen Gewinnen kommt nicht viel im Lande an. Immer schon wurden auf griechischen Schiffen vor allem Güter von fremden Ländern in fremde Länder transportiert. Piräus war ein Zwischenstopp. Am griechischen Bruttoinlandsprodukt haben die Dienstleistungen des Seetransportes für Ausländer seit Jahrzehnten einen Anteil von etwa 6 Prozent. Für die chronisch defizitäre griechische Außenhandelsbilanz sind diese „Dienstleistungsexporte“ neben dem Tourismus der wichtigste Posten. Aber in Anbetracht der weltgrößten Handelsflotte ist es nicht besonders viel. Immer weniger Seeleute fahren auf den durchrationalisierten modernen Schiffen, die Hälfte von ihnen sind noch Griechen. Schiffe werden schon lange in Korea und China bestellt. Die Vermögensverwaltungen schließlich sitzen in der Schweiz.

Heute sollen in und um den Hafen von Piräus noch etwa 50000 Menschen arbeiten. Es waren mal 200000. In Perama, westlich von Piräus, kann die blanke Armut besichtigt werden. Ohne gegenseitige Hilfe und freiwillige Unterstützung sind selbst elementare Güter oder Krankenpflege für die Bewohner nicht mehr verfügbar. Für sie endete der Anschluss an den Weltmarkt mit dem Ausschluss vom Arbeitsmarkt.

Das ist das Kräfteverhältnis, vor dem über die 800 Millionen Euro verhandelt wird, die COSCO für die Hälfte der Anteile an der Hafenverwaltung von Piräus zu zahlen breit ist. Syriza wird nachverhandeln und am Ende in den Verkauf wahrscheinlich einwilligen. Viele Linke werden ihr das dann vorwerfen. Sie sehen in Griechenland das schwächste Kettenglied. Aber der europäische Kapitalismus ist kein Schiff, das nur von einer Kette gehalten wird. Man sollte nie von anderen Kämpfe verlangen, die man selbst schon lange verloren gegeben hat.


[*] TEU steht für „Twenty Foot Equivalent Unit“ und bezieht sich darauf, dass die frühen Versionen des Containers 20 Fuß Länge hatten. Der reale Transport erfolgt heute zwar in 30- oder 40-Fuß-Containern. Um der einheitlichen Vergleichbarkeit willen wird jedoch weiter in 20-Fuß-Äquivalenzen oder eben in TEU gerechnet.

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