Die Frauen wissen nicht, was da auf sie zukommt!

Der Abbau der Demokratie in TTIP und die Auswirkungen auf Frauen. Interview mit Barbara Volhard (Attac)
Lunapark21 – Heft 28

Du hast das Transatlantische Handelsabkommen (TTIP) aus der Genderperspektive unter die Lupe genommen.  In welchen Bereichen siehst du die Interessen von Frauen durch TTIP besonders gefährdet? Auch Männer wollen vielleicht kein Chlorhuhn und keinen Genmais …
TTIP zielt – wie alle aktuellen Handelsabkommen – nicht nur auf Waren, sondern vor allem auf Dienstleistungen. Denn der Dienstleistungssektor ist in den letzten Jahrzehnten enorm angewachsen. In Deutschland arbeiten 73,7 Prozent aller Erwerbstätigen in diesem Sektor. Zugleich ist der Dienstleistungssektor von hoher ökonomischer Bedeutung: Im Durchschnitt trug er 2012 in der EU zu über 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bei, in den USA sogar zu 77,3 Prozent. Die Wirtschaft erwartet daher Milliardengewinne, wenn Länder zu extremer Liberalisierung und Deregulierung des Dienstleistungssektors einschließlich der öffentlichen Dienstleistungen verpflichtet werden. Da 82,7 Prozent aller erwerbstätigen Frauen in Deutschland im Dienstleistungssektor arbeiten, wären sie von den Folgen besonders betroffen. Dabei umfasst der Dienstleistungssektor etwa 150 Branchen, z.B. Versicherungen und Banken, Verkehr und Telekommunikation, Energie- und Wasserversorgung, Müll und Abwässer, Kultur und Tourismus, Medien, Internet, Sport, Groß- und Einzelhandel. Vor allem geht es hier um den gesamten Care-Bereich, also um Krankenhäuser und Gesundheitsversorgung, Kindergärten, um das Bildungs- und Schulsystem sowie um sämtliche sozialen Dienste von der Altenpflege bis zur Jugendhilfe. 90 Prozent der im Dienstleistungssektor beschäftigten Frauen arbeiten im Care-Bereich.

Ist der Care-Bereich nicht Teil des Öffentlichen Dienstes?
Im Wesentlichen ja – mit Ausnahme natürlich der nicht bezahlten Care-Arbeit in Haushalt und Familie. Es gibt jedoch zwei Knackpunkte, die besonders Frauen, aber auch grundlegende Fragen der Demokratie betreffen: Erstens soll ein Handelsabkommen soll ja sog. Handelshemmnisse beseitigen – mit TTIP werden jedoch gesellschaftliche Errungenschaften zu „Handelshemmnissen“ herabgewürdigt und sollen geschwächt werden! Zu ihnen gehören hart erkämpfte Rechte wie Kündigungsschutz, Tarifrecht, Sozialstandards, Mindestlöhne, Arbeitszeitregelungen, Mitbestimmungsrechte, Gesundheitsstandards. Den Beteuerungen der EU-Kommission, die Standards würden nicht gesenkt, ist nicht zu glauben. Größere Märkte bedeuten meist größere Konkurrenz und höheren Kostendruck. Dieser wird selbstverständlich auch durch die Absenkung von Schutzstandards an die Beschäftigten weitergegeben. In der jetzt schon – mit Ausnahme von Lehrerinnen und Ärztinnen – schlecht entlohnten Care-Arbeit dürfte sich das besonders auswirken.

Warum betrifft das Frauen ganz besonders?
Weil Frauen, die der Doppel- und Dreifachbelastung durch Beruf, Familie und evtl. auch noch Angehörigenpflege ausgesetzt sind, häufiger atypisch beschäftigt sind als Männer. Zu den atypisch Beschäftigten zählen befristet Beschäftigte, Teilzeitbeschäftigte mit bis zu 20 Wochenstunden, geringfügig Beschäftigte sowie Beschäftigte in Zeitarbeit. Während 2013 nur 11,7 Prozent der erwerbstätigen Männer atypisch beschäftigt waren, lag der Anteil bei den Frauen bei 32,5 Prozent.[1] Gerade sie sind auf die in den bestehenden Gesetzen enthaltenen sozialen Schutzstandards besonders angewiesen.

Der zweite Knackpunkt: Mit öffentlichen Dienstleistungen kann nur Handel getrieben werden, wenn sie zuvor privatisiert wurden. Die Gestaltungshoheit insbesondere kommunaler Parlamente wird gefährdet durch den enormen Liberalisierungs- und Privatisierungsdruck, der von diesen Abkommen auf die öffentlichen Dienstleistungen, insbesondere die Daseinsvorsorge ausgeht. Sogenannte „Standstill“- und „Ratchet“-Klauseln schreiben eine einmal erreichte Liberalisierung oder Privatisierung öffentlicher Güter dauerhaft fest und verlangen, dass auch künftige Liberalisierungen automatisch zu TTIP-Verpflichtungen werden. Der Rückkauf bzw. die Rekommunalisierung privatisierter kommunaler Betriebe, etwa von Wasserwerken oder Krankenhäusern, wäre dann verboten.[2]

Privatisierungen aber führen meist zu Stellenabbau und Arbeitsverdichtung, zu Lohndrückerei, Arbeitshetze, prekären Arbeitsplätzen mit fehlenden Sozialleistungen etc. Das alles könnte den sowieso schon mehrfach belasteten Frauen zusätzlich aufgedrückt werden. Dazu kommt, dass ein Schutz der Frauen durch öffentliche Kontrolle, Transparenz und Einflussnahme fehlen würde. Die ist z.B. bei kommunalen Unternehmen im Gemeinderat schon gering, bei Eigenbetrieben und GmbHs mit hundertprozentigem kommunalem Besitz durch nichtöffentliche Aufsichtsratssitzungen noch geringer. Bei einem Verkauf an Dritte ist eine Kontrolle dann völlig verschwunden.

Siehst Du neben dem Privatisierungsdruck und dem Abbau von Sozialstandards weitere Gefahren durch die Handelsabkommen?
Das ganze System der Schiedsgerichtsbarkeit, die Privatisierung des Rechts auf supranationaler Ebene und damit die Auflösung der Gewaltenteilung ist ein weiterer unglaublicher Skandal. Dabei ist die Klagemöglichkeit von Konzernen vor privaten Schiedsstellen, wenn sie ihre Gewinnerwartungen durch demokratisch beschlossene Bestimmungen geschmälert sehen, noch nicht einmal das Schlimmste. Derartige Klagen haben zwar schon zur Rücknahme von geplanten Gesetzen geführt – wie z.B. in Kanada innerhalb des NAFTA-Abkommens – oder zu riesigen Schadenersatzzahlungen aus Steuergeldern. Viel schlimmer jedoch ist, dass TTIP als „living agreement“ geplant ist, also sich nach Vertragsabschluss sozusagen automatisch fortentwickeln soll.[3] Institutionell fest verankert werden soll, dass solche „Handelshemmnisse“ in Zukunft verhindert werden; zugleich sollen bestehende nationale Bestimmungen, die durch das Abkommen selbst noch nicht abgeschafft wurden, nachträglich so bearbeitet werden können, dass sie keine „Handelshemmnisse“ mehr sind.

Dabei würde internationalen Konzernen ein Mitspracherecht für die Schaffung zukünftiger wie die Überarbeitung bestehender Bestimmungen eingeräumt, noch bevor die Parlamente sich mit den Gesetzesvorhaben beschäftigen: Hier spielt der geplante transnationale „Regulierungsrat“ eine wesentliche Rolle: Er soll aus Behörden- und Handelsvertretern bestehen, nicht etwa aus Parlamentsmitgliedern.[4] Dieses nicht gewählte Funktionärsgremium hätte also mehr legislative Kompetenz als das Europäische Parlament. Die Ergebnisse seiner Beratungen könnten uns als Europäische Richtlinien begegnen, von denen die Öffentlichkeit dann nicht erfährt, wie sie zustande gekommen sind, nach denen aber bekanntlich die Mitgliedsstaaten ihre Gesetzgebung richten müssen.

Praktisch ist TTIP kein Handelsabkommen, sondern eine Deregulierungsabkommen! Das ist ein Eingriff in die Gesetzgebungshoheit, ein Anschlag auf die parlamentarische Demokratie. Die Entwicklung eines demokratischeren Europas würde auf Jahrzehnte hinaus blockiert. In absehbarer Zeit – wenn alle „Handelshemmnisse“ beseitigt sind – könnten sich die erwähnten Investorenklagen sogar erübrigen, weshalb es nicht ganz ausgeschlossen ist, dass das Investorenschutzkapitel in TTIP mit Hinweis auf diese „regulatorische Kooperation“ nach Vertragsabschluss tatsächlich gestrichen wird.

Die Verteidiger des Abkommens sprechen von Wachstum und von neuen Arbeitsplätzen …
Bei dem nunmehr 20 Jahre alten nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA zwischen USA, Kanada und Mexico wurden anfangs die gleichen Versprechungen gemacht. In Wirklichkeit führte es zu einem starken Abbau von Arbeitsplätzen (eine Million allein in den USA) und gleichzeitig zu einer massiven Ausweitung des Niedriglohnsektors. Vor allem in Mexiko haben viele Kleinbauern ihre Existenz verloren.[5] Es ist zu befürchten, dass TTIP besonders Frauen vermehrt in den Niedriglohnsektor drängen wird. Eine erst kürzlich erschienene Studie der Tufts University in Massachusetts mit dem bezeichnenden Titel „The Transatlantic Trade and Investment Partnership: European Disintegration, Unemployment and Instability” prognostiziert für die EU den Verlust von 600000 Arbeitsplätzen durch TTIP und – je nach Land – Einkommensverluste von 165 bis zu 5000 Euro pro Person und Jahr. Auch Steuereinnahmen und Bruttoinlandsprodukte würden erheblich schrumpfen.[6]

Wie organisieren Frauen die Gegenwehr gegen dieses Abkommen? Sind Frauen sensibler für die Gefahren, die da auf uns zurollen?
Frauen sind diejenigen, die in unseren Gemeinwesen sowohl in der EU als auch in den USA die eigentliche gesellschaftliche Verantwortung tragen, weil sie nach wie vor fast ausschließlich für die Reproduktion der Gesellschaft verantwortlich sind. Sie arbeiten mehrheitlich in den Care-Berufen, als Erzieherinnen und Lehrerinnen, als Krankenschwestern und Pflegerinnen, als Ärztinnen und Betreuerinnen etc. Darüber hinaus liegt in ihren Händen nicht nur die Ernährung und der Konsum der Familien, die Erhaltung der Wohnung, die Leistung aller häuslichen Aufgaben, sondern auch weitgehend die Betreuung und Erziehung der eigenen Kinder. Sie pflegen in vielen Fällen kranke und alte Familienangehörige.

Die meisten erwerbstätigen Frauen haben genau wegen dieser Mehrfachbelastung häufig nicht die Kraft oder die Zeit, sich politisch zu informieren. Hinzu kommt: Sie wissen gar nicht, was da auf sie zukommen könnte. Es wäre wichtig, vor allem die Gewerkschaften zu sensibilisieren, aber auch Frauenorganisationen und -Verbände auf die Gefahren aufmerksam zu machen, damit sie dieses Wissen weitergeben können.

Bei Attac haben wir die Kampagne „Ich bin ein Handelshemmnis“ gestartet, um die positive Implikation vieler sog. Handelshemmnisse hervorzuheben. (www.ich-bin-ein-handelshemmnis.de)

Barbara Volhard ist seit 2003 Mitglied bei Attac. Sie ist auch Mitglied bei den „Unabhängigen Frauen Freiburg“.

Anmerkungen:

[1] http://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/ GesamtwirtschaftUmwelt/Arbeitsmarkt/ Erwerbstaetigkeit/AktuellAtypischeBeschaeftigung.html

[2] Siehe dazu die Studie von Thomas Fritz TTIP vor Ort – Folgen der transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft für Bundesländer und Kommunen: http://blog.campact.de/ wp-content/uploads/2014/09/Campact_TTIP_vor_Ort.pdf

[3] Handelskommissar de Gucht erläuterte am 10.10.2013, dass die regulatorische Kooperation für künftige Regulierungen gelten solle, um unnötige Handelshemmnisse zu vermeiden, die existierende Regulierung kompatibler machen solle und dies durch entsprechende Institutionen abgesichert werden solle. Er sagte auch, dass es sich um ein „living agreement” handele und schlägt einen transnationalen Regulierungsrat vor. http://europa.eu/rapid/press-release_SPEECH-13-801_en.htm

[4] Ein Positionspapier der Europäischen Kommission erläutert, dass ein Regulierungsrat aus Behördenvertretern und Handelsvertretern zweimal jährlich tagen und ein jährliches regulatorisches Programm entwickeln soll. Als Aufgaben des RCC werden u.a. die Vertiefung der regulatorischen Kooperation sowohl hinsichtlich zukünftiger als auch bestehender regulatorischer Maßnahmen genannt: „to deepen regulatory cooperation towards increased compatibility for both future and existing regulatory measures.“ http://corporateeurope.org/sites/default/files/ttip-regulatory-coherence-2-12-2013.pdf

[5] Siehe die Studie von Public Citizen NAFTA’s 20-Year Legacy and the Fate of the Trans-Pacific Partnership (http://www.citizen.org/documents/nafta-at-20.pdf). Dort heißt es: „Rather than creating the promised hundreds of thousands of U.S. jobs, NAFTA has contributed to an enormous new U.S. trade deficit with Mexico and Canada, which had already equated to an estimated net loss of one million U.S. jobs by 2004.“

[6] http://www.ase.tufts.edu/gdae/Pubs/wp/14-03CapaldoTTIP.pdf Deutsche Zusammenfassung unter http://ttip.attac-bremen.eu/index.php?page=capaldo-tufts-university-abstract-and-summary

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