Vom Investitionsschutz zum transatlantischen Freihandelsabkommen

50 Jahre Tradition
Hannes Hofbauer. Lunapark21 – Heft 28

TTIP ist, was es ist. Beispielsweise ein „heimlicher Staatsstreich“, wie das Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung vom 10. Mai 2014 formulierte. Prantl schrieb: „Das geplante Abkommen formuliert ein neues internationales Supergrundrecht: Das Grundrecht auf ungestörte Investitionsausübung“. Allerdings, so Hannes Hofbauer im folgenden Beitrag, gibt es längst Tausende Abkommen, die dieses Investoren-Grundrecht grundsätzlich über Verfassungen und Menschenrechtskonvention stellen. TTIP soll hier gewissermaßen eine Abrundung und Krönung dessen mit sich bringen, was sich auf diesem Gebiet seit 1965 bereits als freiheitlich-autokratische Kapital- und Bodenordnung herausgebildet hat.

Seit Juli 2013 wird hinter verschlossenen Türen zwischen den USA und der EU ein völkerrechtlicher Vertrag verhandelt. Dieser soll zwar nicht die Völker der beiden Halbkontinente einander näher bringen, wie es der Terminus „Völkerrecht“ irrtümlicher Weise suggeriert. Vielmehr ist beabsichtigt, eine vollständige ökonomische Konvergenz von zwei Markträumen durchzusetzen, die in vielen Bereichen ohnedies bereits vorhanden ist. Mit anderen Worten: die vier sogenannten kapitalistischen Freiheiten – der Transfer von Kapital, Waren, Dienstleistungen und Arbeitskraft – würden sich nach der Unterzeichnung des „Transatlantischen Freihandelsabkommens“ (TTIP) zwischen der kalifornischen Pazifik- und der rumänischen Schwarzmeerküste ungehindert von politischen Eingriffen entfalten können.

Einen wesentlichen Aspekt dieses Freihandelsabkommens bildet die Ausschaltung von Risiken für Investoren, wie sie allenfalls durch sozial-, umwelt- oder wirtschaftspolitische Maßnahmen eintreten könnten. Im vorliegenden Beitrag wird argumentiert, dass der Investitionsschutz selbst dann, wenn er nicht vollumfänglich ins Regelwerk des TTIP aufgenommen würde – was wegen des politischen Drucks innerhalb der EU gar nicht so unwahrscheinlich ist –, bereits in anderer Form existiert. Die großen Investoren brauchen sich vor der Politik nicht mehr zu fürchten. Tausende von bilateralen Investitionsschutzabkommen garantieren ihnen seit mehr als zwei Jahrzehnten ihr eingesetztes Kapital, freien Gewinntransfer der Profite und staatliche oder kommunale Entschädigungen im Falle von Wertverlusten.

Klassisches Investorenschutz-Regime
Investitionsschutzabkommen gehen auf eine Initiative der Weltbank aus dem Jahr 1965 zurück. Der damalige Vorstoß der Bretton-Woods-Organisation war eine Reaktion auf die Dekolonisierungswelle auf der südlichen Halbkugel, ein erster Schritt in Richtung Kodifizierung restaurativer Kapitalinteressen. Institutionell fungierte das „International Center for Settlement of Investment Disputes“ (ICSID) als Rahmen für die multilaterale Konvention zum Schutz von privaten Investitionen vor staatlichen Zugriffen. Im Jahr 2008 hatten knapp 150 Staaten die Konvention ratifiziert und damit das direkt bei der Weltbank in Washington angesiedelte ICSID anerkannt. Mit Bolivien, Ecuador und Venezuela traten in den vergangenen Jahren von linken Regierungen geführte Länder daraus aus.

Anders als Verträge, die Investoren mit dem jeweiligen Gastland auf Basis von Fremdenrechten abschließen, bieten Investitionsschutzabkommen Unternehmen alle erdenklichen Möglichkeiten, ihre von ihnen selbst als unumstößlich betrachteten Rechte durchzusetzen. Fremdenrechtliche oder Investor-Staat-Verträge, wie sie noch in den 1960er- und 1970er-Jahren üblich waren, unterlagen meist den Gesetzen des Gastlandes und konnten im Fall von Streitigkeiten nur über diplomatische Kanäle zwischen dem Heimatstaat des investierenden Unternehmens und dem Gastland durchgesetzt werden. Der Investor hatte kaum direkte rechtliche Handhaben.

Mit den „International Investment Treaties“, den Investitionsschutzabkommen, hat sich das radikal gewandelt. Nun existiert ein exterritoriales Schiedsgericht, dessen Befugnis allumfassend ist und von den Vertragsparteien im Vorfeld anerkannt wird. Investitionen und damit wirtschaftliche Tätigkeiten sind der nationalen Rechtsprechung entzogen. Als völkerrechtlich bindender Vertrag steht der Schutz des Eigentums über allem.

Zum Redaktionsschluss dieses „Lunapark“-Heftes hat die Bundesrepublik Deutschland, die bereits in den 1960er-Jahren erste bilaterale Investitionsschutzabkommen geschlossen hatte, mit 131 Ländern sogenannte „Investitionsförderungs- und -schutzverträge“ (IFV) unterzeichnet. Auf der Homepage des „Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie“ werden diese penibel aufgelistet. Das Interessante an der Liste: Vor 1989 beschränkten sich die wenigen Investitionsschutzabkommen auf afrikanische und ein paar kleinere ostasiatische Länder sowie auf Griechenland, Portugal und Malta, also auf insgesamt 35 (von heute 131) Staaten. So gewissermaßen der Stand des damaligen Who is Who wirtschaftskolonialer Begehrlichkeiten. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) explodierte die Anzahl der Verträge.(Das Geflecht der Freihandelsverträge).

Sehen wir uns einmal einen solchen Investitionsschutzvertrag genauer an, z.B. jenen, der von Österreich und Rumänien 1997 erstmals ratifiziert wurde, und zwar in der Fassung vom 24. September 2010.[1] Das Abkommen trägt den Titel „Über die gegenseitige Förderung und den gegenseitigen Schutz von Investitionen“. Bereits die Terminologie ist irreführend. Denn es ist kein nennenswertes Investment von rumänischem Kapital in Österreich bekannt. Umgekehrt hat der größte österreichische Energiekonzern OMV den – vor der Übernahme personell stärkeren – rumänischen Kraftstoff-Monopolisten Petrom gekauft. Auch in anderen Branchen wie z.B. dem Finanzsektor, der Landwirtschaft oder im Lebensmittelbereich haben sich österreichische Investoren in Rumänien breitgemacht, niemals umgekehrt. Wir lernen daraus: Investitionsschutzabkommen sind eben nicht, wie auch im deutschen Mustervertrag angeführt, zum „gegenseitigen“ Schutz in Kraft, sondern sie schützen ausländisches Kapital mächtiger Konzerne vor möglichen staatlichen Eingriffen.

In Artikel 1 („Definition“) wird der Begriff der zu schützenden „Investition“ erläutert. Sie umfasst Vermögenswerte jeglicher Art, „Eigentum an beweglichen und unbeweglichen Sachen sowie sonstige dingliche Rechte, wie Hypotheken, Zurückbehaltungsrechte, Pfandrechte, Nutzungsrechte und ähnliche Rechte“; des Weiteren „Aktien, Wertpapiere“, „Ansprüche auf Geld und Leistungen“, „geistiges Eigentum“, „Konzessionen“, „wieder investierte Gewinne“ etc. etc. Als „Erträge“ aus diesen Investitionen werden definiert: „Gewinne, Zinsen, Kapitalzuwüchse, Dividenden, Tantiemen, Lizenzgebühren und andere Entgelte“, wobei sicherheitshalber – man kann ja nie wissen, woher das Geld alles kommt – darauf hingewiesen wird, dass diese Aufzählung „nicht ausschließlich“ gemeint ist.

Zur Sache geht es dann in Artikel 4 („Entschädigung“). Hier steht der Begriff „Enteignung“ im Zentrum, „er umfasst auch eine Verstaatlichung oder jede sonstige Maßnahme mit gleicher Wirkung“. Sollte dennoch aus irgendwelchen Gründen „im öffentlichen Interesse“ einmal eine Enteignung stattfinden, beispielsweise wegen dringender infrastruktureller Maßnahmen oder weil sich das Wahlvolk gegen ökologisch oder finanziell katastrophale Investitionen ausgesprochen hat, dann ist vertraglich vorgesorgt: „Die Entschädigung muß dem Wert der Investition unmittelbar vor dem Zeitpunkt entsprechen, in dem die tatsächliche oder drohende Enteignung öffentlich bekannt wurde“. Damit ist ausgeschlossen, dass der Wert einer Kapitalanlage aus politischen Gründen sinkt, z.B. weil öffentlich über soziale, ökologische oder regionale Tragbarkeit bzw. Sinnhaftigkeit eines Investments debattiert wird. Und weiter im Text: „Die Entschädigung muß ohne ungebührliche Verzögerung geleistet werden, ( …) sie muß in frei konvertierbarer Währung erfolgen und frei transferierbar sein.“

Wer nun glaubt, dass im Streitfall nationale Gerichte (des Heimatlandes oder des Gastlandes des Investors) über den Wert von Investitionen, Rechtmäßigkeiten, Entschädigungen oder ähnliches entscheiden, irrt. In Artikel 8 steht klipp und klar, was in letzter Instanz passiert, so sich die streitenden Parteien nicht „innerhalb von drei Monaten“ einigen: „Die Beilegung von Investitionsstreitigkeiten zwischen dem Investor und einer Vertragspartei ( …) wird vom Internationalen Zentrum für die Beilegung von Investitionsstreitigkeiten, welches ( …) am 18. März 1965 in Washington zur Unterzeichnung aufgelegt wurde“, getätigt. Eine UN-Statistik aus dem Jahr 2012 zeigt auf, dass in 70 Prozent aller Fälle, die verhandelt wurden, für das Unternehmen und gegen den Staat entschieden wurde.[2]

Investitionsschutzabkommen stehen von ihrer Struktur her dem demokratischen Prinzip entgegen. Sie sind in der Regel mindestens zehn Jahre gültig, verlängern sich meist automatisch und leisten damit Versprechungen an Investoren, ohne dass ein späterer parlamentarisch-demokratischer Meinungsbildungsprozess das Investment kritisch betrachten könnte. In Ländern der europäischen Peripherie, ganz zu schweigen von afrikanischen und kleineren südostasiatischen Ländern, führt dieses bilaterale Investitionsregime dazu, dass jede neue Regierung die Versprechen der Unantastbarkeit sämtlicher ausländischen Investitionen erneuern muss. Allein die Androhung einer Klage durch einen investierenden Konzern reicht in der Regel aus, geplante Gesetzesänderungen, die das Investment teurer machen würden, abzublasen oder zu verwässern. „Regulatory chill“ nennt sich dieser ständige Druck, der auf politischen Entscheidungsträgern im Angesicht abgesicherter Investoren lastet.[3] Der Politologin Pia Eberhardt von der lobbykritischen Organisation „Corporate Europe Observatory“ zufolge liegt das Problem im strukturell asymmetrischen Recht der Investitionsschutzabkommen begründet. Vor dem Weltbank-Regulator können nur Investoren gegen Staaten, nicht umgekehrt Staaten gegen Investoren klagen.[4] Der Schutz in den Abkommen gilt nur dem Kapital, nicht der Politik oder dem öffentlichen Interesse. Tatsächlich liegt darin ein antidemokratischer Wesenskern der bilateralen Verträge, die zwar zwischen Staaten abgeschlossen, aber nur von Investoren in Anspruch genommen werden können.

Meist geht es bei den Verfahren vor dem Washingtoner Schiedsgericht nicht einmal um Fragen der Enteignung, sondern um potentielle Gewinneinbußen im Zuge politischer Entscheidungen, wie z.B. dem geplanten Ausstieg aus einer als gefährlich erkannten Technologie oder gesundheitspolitischen, patentrechtlichen und umweltpolitischen Maßnahmen. Durchgesetzte Entscheide, die den Unternehmen Schadensersatz zusprechen, können für Staaten extrem teuer werden. So ist ein Fall aus Ecuador bekannt, in dem der US-Konzern Occidental für das Aufkündigen eines Ölfördervertrages vom Washingtoner Schiedsgericht im Herbst 2012 1,75 Milliarden US-Dollar Entschädigung zugesprochen erhalten hat. Quito musste dafür tief ins Budget greifen.[5] Doch selbst im – seltenen Fall – der Zurückweisung einer Investorenklage bleiben die freigesprochenen Staaten auf ihren Anwalts- und Verfahrenskosten sitzen. Das kam z.B. den Philippinen teuer, als die Klage des deutschen Flughafenbetreibers Fraport über eine Entschädigung von 350 Millionen Euro wegen eines gescheiterten Projekts am Flughafen Manila zwar abgeschmettert wurde, die Prozesskosten von 58 Millionen Euro jedoch aus dem philippinischen Staatshaushalt gedeckt werden mussten.[6]

Doch Investitionsschutzabkommen betreffen mittlerweile nicht nur mehr Peripherie- und Schwellenländer. Längst kämpfen auch starke Industriestandorte gegen rechtliche Freibriefe für Investoren. Dies war z.B. der Fall in der Stadt Hamburg, die sich nach einem demokratisch per Wahlentscheid herbeigeführten Meinungsumschwung in Sachen Energiepolitik mit einer Schadenersatzforderung in Milliardenhöhe durch den schwedischen Energieriesen Vattenfall konfrontiert sah. Nach einem Koalitionswechsel 2008 wollten die nun mitregierenden Grünen strengere Umweltschutzauflagen für das Kohlekraftwerk im Stadtteil Moorburg erlassen. In den neu erlassenen Richtlinien zum Entzug des Kühlwassers aus der Elbe sah der schwedische Energiekonzern Vattenfall einen Bruch des Investitionsschutzabkommens und zog vor das internationale Schiedsgericht. Die Klagsumme von 1,2 Milliarden Euro schreckte die deutsche Bundesregierung als Beklagte. Das Kohlekraftwerk ging mit weniger strengen Auflagen ans Netz, der Hamburger Senat erfuhr von der Entscheidung aus den Medien, die Bürger protestierten – vergeblich. Der ehemalige Stadtrat der Umweltbehörde Hamburg, Christian Maaß, zeigte sich verwundert: „Es ist eine ziemlich absurde Situation“, meinte er gegenüber dem ZDF-Magazin Monitor: „Wenn man wie ich über Jahre Umweltrecht studiert und angewendet hat, die Rechtsprechung kennt, denkt man, man weiß so ziemlich genau, um was es geht ( …). Und dann werden Sie auf einmal vor ein Schiedsgericht gezerrt, wo drei Leute – von denen einer jeweils auch von den Parteien benannt wird – auf einmal darüber entscheiden sollen, ob das, was Sie rechtmäßig gemacht haben, rechtmäßig ist oder nicht.“[7]

Einen „unfassbaren Vorgang“ nennt das der frühere österreichische Finanzstaatssekretär und sozialdemokratische Nationalratsabgeordnete, Christoph Matznetter. Er sieht in den Investitionsschutzabkommen insgesamt eine große Gefahr: „Kapital will nur mehr dorthin gehen, wo es Investitionsschutzabkommen gibt“, meint er im Gespräch. Und weiter: „Gleichzeitig wird gegen Maßnahmen, die in einem Land demokratisch beschlossen werden – ich denke z.B. an den Atomausstieg in Deutschland –, von ausländischen Konzernen auf Basis des Investitionsschutzabkommens geklagt.“ Das 2013 in die Wege geleitete und derzeit in Verhandlung stehende Transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP) zwischen EU-Europa und den USA könnte vor diesem Hintergrund zum Schutzschild für Investoren dies- und jenseits des Atlantik werden, auf Kosten politischer Interventionsmöglichkeiten. (Kritik am TTIP)

Vorläufiger Schlusspunkt: TTIP
Ein gemeinsamer Markt der USA und der EU, so verlauten die Betreiber des TTIP-Projektes, könnte die zwei größten Volkswirtschaften der Welt „mit 800 Millionen Konsumenten“ und einem Anteil am weltweiten Bruttoinlandsprodukt (Welt-BIP) von 19 Prozent im Fall der USA bzw. von 18 Prozent im Fall der EU zusammenführen. Ihre bilateralen Direktinvestitionen machten 2013 2766 Milliarden (oder 2,7 Billionen) Euro aus.[8] Nochmals zur Verdeutlichung der Dimension: Mehr als die Hälfte aller ausländischen Direktinvestitionen der USA – genauer: 56 Prozent – befinden sich in der Europäischen Union. Umgekehrt sind 71 Prozent des außerhalb der EU investierten Kapitals in die USA angelegt.[9]

Im TTIP wird das bereits bestehende Instrument des Investitionsschutzabkommens verfeinert und auf eine höhere Ebene gestellt. Das technische Instrument zur Durchsetzung des Investitionsschutzes sollen permanent tagende Schiedsgerichte sein. Darin wird Unternehmungen, die durch staatliche Gesetze die Gewinnerwartung ihrer Investitionen gefährdet sehen, die Chance geboten, auf kurzem Weg Entschädigung zu erhalten. Nicht nationale oder EU-Gerichte würden dann über Streitfälle entscheiden, sondern – genau wie bei den bilateralen Investitionsschutzabkommen – ein dreiköpfiges Richterkollegium. Dessen Schiedsspruch schließt eine Berufungsmöglichkeit aus, womit die „normale“ Rechtsprechung für die wirklich großen Vorhaben außer Kraft gesetzt wäre. Staatlich oder kommunal verfügte Umweltauflagen, neue Arbeitsschutzgesetze, Zahlungsmoratorien, Schutzklauseln im Falle gesundheitlicher Risiken, gar nicht zu reden von Enteignungen … all dies werden sich Parlamente oder Regierungen künftig ersparen oder zwei Mal überlegen, gehen sie doch immer das Risiko ein, dafür hohe Entschädigungssummen an das damit in seinem Profitstreben beeinträchtigte Unternehmen zahlen zu müssen.

Die bislang abgehaltenen Verfahren, die Investitionsschutz zum Ziel haben, teilt sich ein exklusiver Klub von weltweit tätigen Rechtsanwaltskanzleien; 55 Prozent ihrer Klagen betreffen Staaten, die nach Auffassung der klagenden Unternehmen ihre „Investorenrechte“ beschnitten haben.[10]

Inhaltlich steht im TTIP des Weiteren die Beseitigung von sogenannten „nichttarifären Handelshemmnissen“ auf der Tagesordnung. Das sind unterschiedliche Standards in den Bereichen Umwelt, Gesundheit, Soziales, Sicherheit sowie Vergabepraktiken bei öffentlichen Aufträgen und Reste von Schutzbestimmungen für Branchen oder Lebensbereiche, die national als schützenswert angesehen werden. Dazu sind ein gegenseitiger Zugang zu Ausschreibungen im öffentlichen Auftragswesen sowie die Liberalisierung bei Dienstleistungen geplant.[11] Überzeugte transatlantische Freihändler können sich in all diesen Bereichen nur einen „Run to the bottom“, also die Festschreibung des jeweils kleinsten gemeinsamen Nenners vorstellen.

Daraus abgeleitet werden in der Öffentlichkeit dies- und jenseits des Atlantiks die möglichen Folgen in konkreten Lebensbereichen diskutiert. Vom US-amerikanischen Chlorhuhn hat schon jeder und jede gehört. Es entspricht der nordamerikanischen Auffassung von Hygiene, dass Fleisch mit allerlei Chemikalien – eben auch mit Chlor – desinfiziert wird, während in der Europäischen Union strenge Schlacht- und Verarbeitungsprozesse vorherrschen, um Kontaminierungen möglichst hintanzuhalten. Weniger verbreitet ist das Wissen über den Einsatz von Wachstumshormonen insbesondere bei Schweinefleisch, das jenseits des Atlantiks mit – für EU-europäische Fachleute – gesundheitsgefährdenden Mitteln wie „Ractopamin“ betrieben wird. Die Anwendung des Mittels ist in der Europäischen Union, Russland und China verboten, in den USA hingegen erlaubt.

Doch die durch das TTIP zu glättenden Unterschiede zwischen den USA und der EU beschränken sich nicht auf Lebensmittel. So erlaubt der amerikanische Gesetzgeber das „Fracking“ nach Erdgas, während diese Technologie in Deutschland wegen ihrer Umweltgefährdung verboten und in Ländern wie Großbritannien, Polen und Rumänien heftig umstritten ist. Auch etwas Vergleichbares wie das EU-weit gültige Gesetz zur Schadstoffreduktion im Flugverkehr, das in seiner gewohnt kommodifizierten Form zum CO2-Emissionshandel im Flugverkehr geführt hat, kennt man in den USA nicht.

In all diesen Fällen unterschiedlicher Regulierungen hoffen die stärksten unter den jeweiligen Anbietern auf Deregulierung. Die Hoffnung ist berechtigt. Denn immerhin versprechen die Betreiber des transatlantischen Vorstoßes Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze, und diese sind nach liberaler Lesart nicht anders als durch Marktausweitung und Zurückdrängung staatlicher Einflussnahme zu bewerkstelligen. Einer ihrer Vorkämpfer, der Banker Pascal Kerneis, macht kein Hehl daraus, worum es den Betreibern von TTIP geht: „Die Industrie wird sich jedem Abkommen widersetzen, in dem der Investitionsschutz gegenüber öffentlichen Interessen, einschließlich der Arbeits- und Menschenrechte, das Nachsehen hat.“[12] Kerneis weiß, wovon er spricht, denn er vertritt als Geschäftsführer das Unternehmensnetzwerk European Services Forum, dem 80 Prozent der großen europäischen Dienstleistungsunternehmen angehören, darunter die deutsche und die französische Telekom, DHL, Telefónica, Siemens etc…

Die Verfechter des transatlantischen Freihandels sind es auch, die in diversen Studien die angebliche Win-Win-Situation aller Beteiligten herausstreichen. Insbesondere die in ihnen verbreitete Vorstellung, dass eine – wie es heißt – „tiefe Liberalisierung“[13] kleineren und mittleren Unternehmen die Chance bieten würde, transatlantisch tätig zu werden, widerspricht allen historischen Erfahrungen mit Freihandelsabkommen. Größere Märkte erfordern geradezu größere Produktionsmargen, und damit sind kleinere Einheiten gegenüber größeren schlechter gestellt.

Die prominenteste dieser das TTIP befürwortenden Studien, eine vom Münchner Ifo-Institut im Auftrag des Bertelsmann-Stiftung erstellte, prognostiziert eine Verdopplung des Handelsvolumens zwischen EU und USA und zwei Millionen neue Arbeitsplätze.14 Wer kann ob solcher Zahlen noch argwöhnen? Zumindest jene, die selbst nach den berufsoptimistischen Prognosen der TTIP-Apologeten unter dem geplanten Abkommen leiden werden. Denn die von Washington und Brüssel forcierte ökonomische Konvergenz wird ihre desintegrierenden Kräfte innerhalb der Europäischen Union vor allem zwischen dem peripheren Süden und Osten auf der einen und dem Zentralraum auf der anderen Seite entfalten. Auch die Handelsbeziehungen zwischen Zentrums- und Schwellenländern wie z.B. Brasilien würden zurückgehen, weil ein deregulierter und von allen Hemmnissen befreiter Austausch zwischen USA und EU andere Märkte zwangsläufig in den Hintergrund drängen würde. Im Falle seiner Verabschiedung wird der transatlantische Freihandel auch auf alle übrigen Staaten, die mit der EU beziehungsweise mit den USA oder mit beiden wirtschaftliche Beziehungen pflegen, einen Deregulierungsdruck ausüben, der staatliche Souveränität ganz generell attackiert.

Hannes Hofbauer lebt in Wien und ist dort als Verleger aktiv. Er ist Mitbegründet von Lunapark21. Bei dem hier wiedergegebenen Text handelt es sich um eine gekürzte und adaptierte Fassung eines Kapitels aus dem eben erschienenen Buch des Autors: Die Diktatur des Kapitals. Souveränitätsverlust im postdemokratischen Zeitalter, Promedia Verlag, Wien.

Anmerkungen:

[1] Gesamte Rechtsvorschrift für Förderung und Schutz von Investitionen (Rumänien), Fassung vom 24.09.2010. In: www.ris.bks.gv.at (4.8.2013).

[2] Monitor Nr. 648 vom 6. Juni 2013

[3] Pia Eberhardt, Konzerne versus Staaten: Mit Schiedsgerichten gegen die Demokratie. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2013, S. 31.

[4] Ebd.

[5] http://justinvestment.org/2012/10/icsid-orders-ecuador-to-pay-1-7-billion-to-occidental-petroleum-interview-with-the-ecuador-decide-network/. (9.7.2014)

[6] Tagesspiegel vom 17.8.2007. Vgl. auch: Pia Eberhardt, Konzerne versus Staaten: Mit Schiedsgerichten gegen die Demokratie. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2013, S. 32.

[7] Monitor Nr. 648 vom 6. Juni 2013.

[8] Fritz Breuss, TTIP und ihre Auswirkungen auf Österreich. Ein kritischer Literaturüberblick. In: Österreichisches Institut f. Wirtschaftsforschung (Hg.), Working Papers Nr. 468/2014. Wien 2014, S. 3.

[9] Thomas Fritz, TTIPO: Die Kapitulation vor den Konzernen. Eine kritische Analyse der Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft. Berlin 2014, S. 7.

[10]Siehe dazu: Lori Wallach, TAFTA – die große Unterwerfung. In: Le Monde Diplomatique vom 8.11.2013.

[11] Fritz Breuss, TTIP und ihre Auswirkungen auf Österreich. Ein kritischer Literaturüberblick. In: Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung (Hg.), Working Papers Nr. 468/2014. Wien 2014, S. 5.

[12] Zit. in: Thomas Fritz, TTIPO: Die Kapitulation vor den Konzernen. Eine kritische Analyse der Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft. Berlin 2014, S. 8.

[13] Die Presse vom 18.6.2013.

[14] The US and the Entire EU would significantly benefit from the Transatlantic Free Trade Agreement. Bertelsmann-Stiftung vom 17. Juni 2013, http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xchg/bst_engl/hs.xsl/nachrichten_116768.htm(23.5.2014).

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