1914. lexikon

Georg Fülberth. Lunapark21 – Heft 26

Es klingt zynisch und ist es auch: Nachdem der Erste Weltkrieg beendet war, fast zehn Millionen Menschen umgebracht und 20 Millionen verwundet und verstümmelt waren, bestand seine operative politische Bedeutung in der Geschichtspolitik, die bis heute mit ihm gemacht wird.

„Die Nationen schlitterten über den Rand, hinein in den brodelnden Hexenkessel des Krieges ohne eine Spur von Verständnis oder Bestürzung.“ Dieser Satz in den Memoiren des britischen Premiers Lloyd George erinnert an die jetzigen Thesen des australischen Historikers Christopher Clark und passte schlecht zu der auch von diesem Politiker 1919 vertretenen Begründung des Versailler Vertrags, dass Deutschland die Hauptschuld trage. Die Metapher vom Schlittern war außenpolitische Staatsdoktrin der Weimarer Republik. Eine Schnittmenge mit der Agitation der NSDAP ergab sich durch den Kampf gegen die „Kriegsschuldlüge“, der militärische Konfrontationskurs nach 1933 wurde als Korrektur eines durch jene legitimierten Diktats dargestellt. In der Bundesrepublik distanzierte man sich von dieser Konsequenz, nicht aber von ihrer geschichtspolitischen Prämisse.

Dann kam 1959 der Hamburger Historiker Fritz Fischer mit seiner These von der zwar nicht alleinigen, aber hauptsächlichen Kriegsschuld Deutschlands. Er argumentierte fachimmanent, doch seine Ergebnisse hatten ebenfalls geschichtspolitische Implikationen: eine geläuterte Bundesrepublik als Teil eines „Westens“, zu dem einige Feinde von 1914 gehörten.

Wer für solche Nebengeräusche hellhörig geworden ist, wird in der These Clarks von den „Schlafwandlern“, als welche alle beteiligten Mächte gleichermaßen in den Krieg hineingeraten seien, nicht ausschließlich einen Gegensatz zu Fischer sehen, sondern: Deutschland gehört zum „Westen“ nicht nur dadurch, dass es ihm inzwischen gleichsam beigetreten ist, sondern auch dadurch, dass beide 1914 schon das Gleiche gewollt und nicht gewollt haben: den Krieg.

So viel zur Ideologie. Gibt es auch eine historische Realität, die davon zu trennen ist?

Ja und nein. Geschichtspolitik, die nicht nur Fälschung ist, wird sich nicht völlig von den Quellen entfernen können. Sie sprechen nicht ausschließlich gegen Clark.

Es ist nämlich unbestreitbar, dass seit 1871, nach der Annexion von Elsass-Lothringen, die Auffassung von der Unvermeidbarkeit eines neuen europäischen Krieges Gemeingut war. Dass der Friede 43 Jahre hielt, hatte seinen Grund darin, dass alle Beteiligten eine so lange Zeit zur Vorbereitung benötigten. Wenn in dieser Frist auch Kriegsziele, nicht nur in Deutschland, entworfen wurden, sollte dies niemanden wundern.
Den Kontext, in dem das geschah, war von den herrschenden Klassen aller Länder akzeptiert: Imperialismus. Das war damals kein polemischer Begriff. In Deutschland nannte man es „Weltpolitik“, und in Großbritannien galt Imperialismus – etwa bei Rudyard Kipling und Cecil Rhodes – als ein anderes Wort für Ausbreitung der Zivilisation nach außen und Sicherung volksgemeinschaftlicher Wohlfahrt nach innen.

Dennoch ist die Schuld am Kriegsausbruch nicht gleichmäßig verteilt. Dass Deutschland auch nach diplomatischem Maß der Angreifer war, ist kein Zufall. Lenin bezeichnete es als den jüngsten, spät gekommenen und deshalb aggressivsten Räuber. Das bedeutet nicht, dass es seine Ziele in erster Linie durch Krieg erreichen musste. Die Hauptrichtung seiner Expansion war Ausdehnung des Einflussgebietes nach Südosten und eine wirtschaftspolitische Hegemonie in Europa. So steht es in der Kriegszieldenkschrift des Reichskanzlers Bethmann Hollweg im September 1914. Da es keine Win-Win-Strategie war, lag irgendwann der Krieg nahe. Ihn begann die Macht mit den geringsten Chancen, das Wettrüsten zu gewinnen: Deutschland. Seine Steuerbasis für immer höhere Militärausgaben hätte allenfalls durch eine Parlamentarisierung des politischen Systems und die Aufhebung des Pluralwahlrechts zu den Landtagen verbreitert werden können, eine Heeresvermehrung, wie sie Ludendorff für erforderlich hielt, durch Verzicht auf das de facto-Offiziersmonopol des Adels. Wer das nicht wollte, musste losschlagen, bevor das Reich im Wettrüsten nicht mehr mithalten konnte.

Diplomatiegeschichte wird die Anlässe des Kriegs aufzählen können, an seine Ursachen kommt sie nicht heran. Der Imperialismus verschwindet in den Akten unter Nebensächlichem. Rosa Luxemburg sieht ihn als Ergebnis der zwangsläufigen Tendenz des Kapitalismus zur Überakkumulation. Thomas Piketty, kein Marxist, charakterisiert die damalige Vorkriegszeit durch den Überschuss an nicht mehr investierbarem Kapital. Dessen schlagartige neue Allokation 1914-1918 war die Lösung eines ökonomischen Problems durch eine humanitäre Katastrophe.

Die mittlerweile von der Forschung offengelegten einzelnen Kriegsziele waren nur Teilmengen eines größeren Komplexes, den Eric Hobsbawm so beschrieb: „Weshalb also wurde der Erste Weltkrieg von den führenden Mächten beider Seiten als Nullsummenspiel geführt, als ein Krieg also, dessen Ausgang nur ein totaler Sieg oder eine totale Niederlage sein konnte?
Der Grund dafür war, daß sich dieser Krieg, im Gegensatz zu den (normalerweise begrenzten und spezifizierten) früheren Kriegen, auf unbegrenzte Ziele richtete. Im imperialen Zeitalter waren Politik und Wirtschaft miteinander verschmolzen. Internationale politische Rivalität ahmte Wirtschaftswachstum und Wettbewerb nach, deren charakteristisches Merkmal es ja schon prinzipiell war, grenzenlos zu sein. Die ‚natürlichen Grenzen‘ von Standard Oil, der Deutschen Bank oder der De Beers Diamond Corporation lagen dort, wo das Universum endet, zumindest aber erst da, wo ihre Expansionsfähigkeit endete.“

Man fragt sich, was sich davon bis heute geändert hat.

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