150 Jahre Küche für alle – 150 Jahre politisches Kochen

„Das Private ist (auch) politisch“, dieser Slogan der „neuen Frauenbewegungen“ hat sich herumgesprochen, seit sich die Frauen gegen die Nicht-Beachtung der abgespalteten Reproduktionsaufgaben, die sie daran hinderten, bei der politischen Arbeit eine gleichberechtigte Rolle einzunehmen, zu Wehr gesetzt haben. Die Gebärfähigkeit sollte Frauen nicht länger zum gesellschaftlichen Nachteil gereichen und Kindererziehung nicht länger Privataufgabe der Mütter sein, sondern als gesellschaftliche Aufgabe betrachtet werden. Aber das Kochen? Wieso ist das Kochen politisch? Kochen ist ein wichtiger Bestandteil der Hausarbeit und Hausarbeit ist ein wichtiger Teil der in den letzten Jahren oft zitierten Care-Arbeit, durch deren Sichtbarmachung und Aufwertung sich Aktivistinnen und Wissenschaftlerinnen gar die „Care-Revolution“ erhoffen. Care-Arbeit ist Sorgearbeit und bezieht sich auf alle bezahlt und unbezahlt geleisteten Tätigkeiten, bei denen Menschen für Andere sorgen oder für die alltägliche Versorgung anderer Menschen zuständig sind. Care-Arbeit ist gesellschaftlich nicht gleichmäßig verteilt, sie ist geschlechtsspezifisch und klassenspezifisch geteilt und wird hauptsächlich von Frauen geleistet: Einerseits von Hausfrauen und andererseits von Dienstmädchen. Care-Arbeit gehört zur Care-Ökonomie. Demnach ist auch Kochen Teil der Care-Ökonomie.

 

150 Jahre Volksküchen

Das erkannte vor 150 Jahren Lina Morgenstern (1830 – 1909). Nachdem ihr „Gemahl der Wahl“ Theodor Morgenstern – ein an sich wohlhabender Kaufmann – in finanzielle Schwierigkeiten geraten war, begann sie (Kinder)bücher zu schreiben, gründete mit Adolf Lette 1861 den Berliner Frauen-Verein zur Beförderung der Fröbelschen Kindergärten mit und den „Verein zur Fortbildung und geistigen Anregung von Arbeiterfrauen“, einen Wohltätigkeitsverein für die armen Arbeiterinnen. Sie konnte sich die Großzügigkeit gegenüber armen Frauen leisten, denn sie stammte aus einer reichen Breslauer Fabrikantenfamilie, war also das, was man „eine Tochter aus gutem Hause“ nannte. Nachdem sie 1866 den Vorsitz des Frauenvereins aufgegeben hatte, dachte sie ökonomisch. Wegen der unzureichenden Lebensmittelversorgung und des großen Hungers, der unter der ohnehin schon armen Bevölkerung durch den preußisch-österreichischen Krieg herrschte, gründete sie im gleichen Jahr den „Verein der Berliner Volksküchen“. Dafür ging die Mutter von fünf Kindern als „Suppenlina“ in die Geschichte ein. Kochen konnte sie offensichtlich gut. Nun tat sie aus sozialpolitischer Motivation was vorher die barmherzigen Kirchenfrauen aus karitativ-missionarischer Mission schon getan hatten, sie speiste die Armen. Damit fand sie freilich auch Anklang bei den christlichen Kirchen und der „Obrigkeit“, denn auch Lina fürchtete die Revolution wie der Teufel das Weihwasser. Wenn die Arbeitermassen Hunger leiden müssten, könnten sie auf die Barrikaden gehen. Ganz uneigennützig war sie ohnehin nicht. Mit der Hilfe von Großeinkäufen und großzügigen Spenden sowie 20 „ehrenamtlichen“ Köchinnen, ebenfalls Damen der besitzenden Klasse, konnte sie erschwingliche Preise kalkulieren. Sie verkaufte die Suppe für 1,5 bis zwei Silbergroschen und der Platz im Himmel schien ihr sicher.

 

Die ab 1871 erstarkende sozialistische Frauenbewegung wandte sich gegen den weit verbreitenden Glauben der bürgerlichen Schwestern, dass das Kochen von Armensuppe ein Mittel ist, das soziale Elend aus der Welt zu schaffen. Dieser Standpunkt führe dazu, dass sowohl Wohltäter, als auch Schützlinge das Empfinden für Gerechtigkeit verloren hätten und die Wohltat an ihre Stelle setzen. Das Verständnis dafür, dass jeder Mensch ein Recht auf eine gesicherte Existenz durch seine Arbeit habe, ginge dadurch verloren. Die Sozialdemokratin Lily Braun nannte es „nicht nur eine schreiende Ungerechtigkeit, sondern auch eine Kränkung, wenn man Menschen mit Almosen abspeist.“ Sozialistinnen wie Pauline Staegemann warfen den Bürgerinnen vor, dass sie die Arbeiterinnen in eine falsche Richtung orientierten und der Arbeiterbewegung abtrünnig machten. Sie waren der Meinung, dass es galt, das soziale System radikal zu verändern und nicht durch karitative Maßnahmen erträglicher zu gestalten daher gründeten sie 1873 den „Berliner Arbeiterfrauen- und Mädchenverein“. Der „Suppenlina“ haben sie vielleicht auch übel genommen, dass sie zu Beginn des deutsch-französischen Krieges 1870/71 mit ihren Volksküchen die Verpflegung der ausrückenden und durchziehenden Truppen übernommen hat. Die Idee der Volksküchen war jedoch geboren, sie breiteten sich zu Zeiten von sozialer Not immer weiter aus. Wohlfahrtsverbände haben sie übernommen und ebenfalls solche Einrichtungen gegründet. Im Nazi-Faschismus gab es zusätzlich den monatlichen Eintopfsonntag, an dem in allen Haushalten Suppe statt eines Sonntagsmahls gekocht werden sollte. Das eingesparte Geld wurde von den Blockwarten als Spende für das 1933 eingerichtete Winterhilfswerk zur Stabilisierung des Regimes kassiert.

 

23 Jahre Tafel“bewegung“

Heute sind es Suppenküchen, Kleiderkammern und Tafeln mit aussortierten Lebensmitteln, die wiederum meist von „ehrenamtlichen“ Damen betrieben werden, und Bedürftigen nicht mit Geld-, sondern mit Suppen- und Sachspenden helfen wollen. Ulrich Thien vom Caritasverband für die Diözese Münster hat das Prinzip aus christlicher Sicht zusammengefasst: „Der Reiche (der Besitzende) reinigt sich durch das Geben aus seinem Überfluss von seiner ‚Schuld‘ (dass er reich ist) und gibt dem Armen (da unten).“ Die Notwendigkeit und Wichtigkeit solcher Einrichtungen wird niemand bestreiten. Gerade die Caritas und die Diakonie betreiben Suppenküchen und Tafeln. Man denke nur an die zu versorgenden Geflüchteten der letzten Monate. Die Tafeln sind älter, sie feierten vor drei Jahren ihr 20jähriges Bestehen. Wenn nicht von den mildtätigen „Tafeln“ bedürftigkeitsgeprüfte Lebensmittel regelmäßig verteilt würden, gäbe es angesichts der niedrigen ALG-II-Sätze und der zunehmenden Anzahl derjenigen Menschen die im Niedriglohnsektor arbeiten und Renten beziehen, von denen sie nicht leben können, am Monatsende oft tagelang kaum oder nichts zu essen. Auf den zweischneidigen Charakter solcher gut gemeinten Hilfsaktionen habe ich bereits 1998 in meinem Büchlein „Die neuen Freiwilligen“ hingewiesen: „Das Einrichten von ‚Tafeln‘ mit aussortierten Lebensmitteln für Arme und Hilfsbedürftige mindert den Reichtum der Wohlhabenden ebenso wenig, wie es das Kochen und Verteilen von Armensuppe der ‚besser gestellten Damen‘ zu Beginn der Industrialisierung getan hat. Es ist aber geeignet, das soziale Prestige der Wohltätigen zu mehren und die Hungernden zu demütigen. Sie sind die BittstellerInnen und sie bleiben arm.“ An den Ursachen strukturell bedingter Armut rühren die BetreiberInnen der Tafeln ebenso wenig wie „Suppenlinas“ Volksküchen. Letztlich legitimieren Armensuppen und ‚Tafeln‘ den Rückzug des Sozialstaates. Immer neue (oder neu aufgelegte?) Spendenaktionen werden erfunden wie neuerdings die „Suppe mit  Sinn“, für die Berliner Gastronomie. Über 40 Restaurants kochen im Rahmen einer Winterhilfsaktion (!) seit einigen Jahren über mehrere festgelegte Wochen – nach dem Vorbild der Wiener Tafel –  für die Berliner Tafeln. Der Sinn der Suppe soll sich vermutlich durch den einen Euro pro verkauftem Teller ergeben, der an die Tafeln geht.

Plausibel und notwendig wäre es, auf Krisen und zunehmende Armut mit politischem Engagement zur Bekämpfung der Ursachen von Armut zu reagieren und nicht alleine mit Initiativen der Mildtätigkeit und mit Einrichtungen der Barmherzigkeit, mit deren Hilfe Menschen lernen sollen, sich mit der (eigenen) Armutslage zu arrangieren und mit den sozialen Bedingungen auszusöhnen, anstatt sich dagegen aufzulehnen.

 

45 Jahre linksalternative Küchen für alle

Um das Bild des politischen Kochens abzurunden sei auf die Volxküchen (Voküs) oder besser Küchen für alle (Küfas) oder auch Soliküchen des links-alternativen Milieus hingewiesen, wie man sie in Berlin und anderen Städten findet. Dort wird seit den 1970er Jahren in Kneipen, Infoläden, selbstverwalteten (Jugend)zentren, Hausgemeinschaften etc.  „ehrenamtlich“ für alle zum Selbstkostenpreis oder umsonst (meist vegan oder vegetarisch) gekocht. Mit dem (oft mehrgängigen Essen) gibt es meist Veranstaltungen oder Diskussionen, verbunden mit Informationen über die aktuelle politische Situation hier und anderswo oder zu widerständigen Bewegungen und man kann sich informieren, welche Aktionen geplant sind, um gemeinsam und solidarisch an Ideen für eine andere Welt zu basteln. Wenn die „Tafelbewegung“ – wie sie sich selbst gerne nennt – oder die ‚neuen‘ Suppenküchen nicht nur als Helfer und Spender auftreten würde, sondern auch als Informant über die Ursachen von Armut und über politisches Engagement zur Bekämpfung von Erwerbsarbeitslosigkeit und Armut sowie auf die Rechte auf ein soziokulturelles Existenzminimum würden die MildtätigkeitsempfängerInnen ermutigt, Missstände auf die politische Agenda zu setzen und gemeinsam und solidarisch darauf zu dringen, dass sich etwas ändert. Damit wär freilich nicht die gesamte Kritik an dieser selbsternannten „Bewegung“ erledigt, aber die ‚Suppe mit Sinn‘ würde gehaltvoller.

 

Im neuen Print-Heft von Lunapark21, das am 19.7.2016 ausgeliefert und einige Tage später auch an großen Kiosken erhältlich ist oder als Einzelheft bestellt werden kann, ist Gisela Notz mit einem Beitrag zur Wirtschaftspolitik der „ neuen Rechten“ vertreten.

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